Ein Jahr NSU-Ermittlungen

Simulierte Aufklärung

Vor einem Jahr wurden der Nationalsozialistische Untergrund und seine Mordserie bekannt. Der Rückblick auf die bisherigen Ermittlungen offenbart eine Geschichte kleinerer und größerer Skandale.

An diesem Wochenende jährt sich zum ersten Mal der Tag, an dem das rechtsex­tremistische mutmaßliche Mördertrio Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe aufflog. Und genauso lange herrscht auf Seiten des Staates hektische Betriebsamkeit, angeblich um den skandalösen Fall des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) aufzuklären.
Etliche Ermittlungsbehörden und drei Kommissionen wurden beauftragt: Je ein Untersuchungsausschuss des Bundestags und des Thüringer Landtags sowie eine gemeinsame Untersuchungskommission des Bundes und der Länder. »Über die Mordserie selbst weiß man aber nach wie vor wenig«, sagt Felix Hansen vom Antifaschistischen Pressearchiv in Berlin (Apabiz). Er hat die staatlichen Aufklärungsversuche des Naziterrors verfolgt. »Niemand kann sagen, wie die Opfer ausgewählt wurden, wer bei den Morden vor Ort war und wer geschossen hat.« Stattdessen erfahre man viel über die Denkweise der Behörden. »Es zeigt sich, warum sie nie nach Nazis geschaut haben.« Immer wieder hätten Ermittler ihre Erfolglosigkeit damit gerechtfertigt, dass es keine Hinweise auf einen rechtsextremen Hintergrund gegeben habe. »Ohne ein Hakenkreuz war für die Polizei die Sache klar: Die Toten waren Migranten, also wird die Sache schon irgendetwas mit organisierter Kriminalität zu tun haben«, sagt Hansen. »Da zeigt sich natürlich auch der Rassismus bei den Behörden.«

Doch diese dürften »nicht als geschlossener Block« betrachtet werden, meint Hansen. Denn immer wieder seien in den vergangenen Monaten gezielt Indiskretionen an die Medien weitergegeben worden – in der Regel, um die je eigene Behörde zu entlasten. So kam Irrwitziges zutage. Beispielsweise wurde bekannt, dass der baden-württembergische Verfassungsschutz den Neonazi Achim S. als V-Mann angeworben hatte. S. hatte im Jahr 2000 einen deutschen Ableger des rassistischen Ku-Klux-Klan (KKK) aufgebaut, zu dessen Mitgliedern auch zwei Polizisten gehörten. Zudem gilt S. als möglicher NSU-Helfer – und wurde offenbar vom Verfassungsschutz vor einer Telefonüberwachung durch die Polizei gewarnt. In der vergangenen Woche sagte Baden-Württembergs Innenminister Reinhold Gall (SPD), der Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, von dem die Warnung kam, sei selbst nicht Mitglied des KKK gewesen. Das »Sicherheitsproblem« des Verfassungsschutzes stehe »offensichtlich in keinem Zusammenhang« mit den Morden des NSU. Gleichwohl wurde der Beamte bis 2014 beurlaubt. Die Sache ist besonders brisant, weil die beiden Polizisten, die dem KKK beigetreten waren, Kollegen von Michèle Kiesewetter waren. Die Beamtin war im April 2007 in Heilbronn ermordet worden – vom NSU. Warum, weiß bis heute niemand.
Des Weiteren brachten die Ausschüsse zutage, dass sich die Polizei bei der Suche nach den Mördern gleich in zwei voneinander unabhängigen Fällen mit Hellsehern einließ. 2008 ließ die Hamburger Polizei den iranischen »Metaphysiker« Dawoud Z. aus Teheran einfliegen. Dieser hatte angeboten, Kontakt mit dem 2001 vom NSU erschossenen Bahrenfelder Gemüsehändler Süleyman T. aufzunehmen. Z., der von der Polizei nicht bezahlt wurde, blickte ins Jenseits und berichtete von einem Täter mit »dunklem Teint (Südländer), braunen Augen und schwarzen Haaren«. Der Mord habe etwas mit »Rockern« und »Drogen« zu tun. Und bei der Suche nach den Attentätern des Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße nahmen die Ermittler Kontakt mit einer Hellseherin aus München auf. Diese konnte jedoch nicht weiterhelfen.
Im September zog sich der frühere Berliner Innensenator Ehrhart Körting (SPD) aus der Bund-Länder-Kommission zur NSU-Aufarbeitung zurück. Es war ruchbar geworden, dass das Berliner Landeskriminalamt von 2000 bis 2010 – also überwiegend in Körtings Amtszeit – den sächsischen Neonazi Thomas S. als V-Mann geführt hatte. Dieser war nach eigenen Aussagen unter anderem in den Neunzigern Zschäpes Geliebter – und besorgte für Mundlos 1,1 Kilogramm TNT. In einem Interview sagte er der Berliner Morgenpost, er fühle sich »nicht schuldig«. Er soll der Berliner Polizei mehrfach vergeblich Hinweise auf das untergetauchte Trio gegeben haben. Im Zusammenhang mit der Mordserie wurde auch gegen ihn ermittelt. Die Berliner Behörden verschwiegen dem Untersuchungsausschuss des Bundestags ein halbes Jahr lang die Zusammenarbeit mit dem Mann.

Die NSU-Aufklärung war für die parlamentarischen Ermittler vor allem auch ein Kampf um die Herausgabe von Akten. Heftig wehrten sich die Ämter gegen die Offenlegung ihrer Dokumente, meist mit dem Verweis auf die Verantwortung für die Quellen. Kurz nach dem Auffliegen des NSU ließ etwa das Bundesamt für Verfassungsschutz eine ganze Reihe von Akten schreddern. Nach außen heißt es, es gebe »keinen Zusammenhang« mit dem NSU, der entsprechende Untersuchungsbericht ist in großen Teilen geheim. Die Auseinandersetzung um die Aktenfreigabe ging so weit, dass der um Aufklärung bemühte thüringische Innenminister Jörg Geibert (CDU) im September 80 Bereitschaftspolizisten in die Räume des Landesverfassungsschutzes beorderte, um sicherzustellen, dass alle 1 500 Aktenordner, die der NSU-Ausschuss des Bundestags angefordert hatte, ungeschwärzt kopiert wurden. Der Versuch anderer Sicherheitsbehörden, den Transport der Akten nach Berlin zu unterbinden, scheiterte nur deshalb, weil Geibert sich weigerte, die genaue Route der Lastwagen bekanntzugeben.
Trotz aller skandalösen Vorgänge und Erkenntnisse, die in dem Jahr seit dem Bekanntwerden des NSU öffentlich wurden, gab es bisher kaum personelle Konsequenzen. Lediglich die Leiter der Verfassungsschutzämter Sachsen-Anhalts, Thüringens, Sachsens und des Bundes traten zurück. Institutionell werden zumindest die Geheimdienste heftig kritisiert. Nicht nur von linken Organisationen, sondern auch aus den etablierten Parteien werden Forderungen nach einer Auflösung der Dienste erhoben. »Nach meiner Auffassung kann es nur einen Weg geben, nämlich die Behörden aufzulösen und einen kompletten personellen Neuanfang zu starten«, sagte etwa Jürgen Trittin, der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, im September. »Die Sicherheitsbehörden sind in ihrer größten Krise«, meint auch Hansen. »Sie werden zum ersten Mal von offizieller Seite in Frage gestellt, doch ob dies wirklich Konsequenzen haben wird, ist mehr als fraglich.«

Doch wie die Ermittlungen weitergehen werden, ist offen. Die beiden parlamentarischen Untersuchungsausschüsse sind bis zum Ende der jewei­ligen Legislaturperiode befristet – sowohl im Bund wie auch in Thüringen dauert diese noch ein knappes Jahr. Ob danach neue Ausschüsse eingesetzt werden, weiß niemand. Im Laufe des vergangenen Jahres wurden fast alle mutmaß­lichen NSU-Helfer wieder auf freien Fuß gesetzt: der sächsische Nazi André E., der am Bekenner­video mitgearbeitet haben soll, der thüringische »Heimatschützer« Holger G., der der Gruppe eine Pistole übergeben haben soll, der mutmaßliche Waffenlieferant Carsten S. und Matthias D., der für die Terroristen Wohnungen angemietet haben soll. Außer Beate Zschäpe sitzt nur noch der ehemalige thüringische NPD-Vizevorsitzende Ralf Wohlleben in Untersuchungshaft. Wohlleben soll dem NSU eine Waffe, Munition und jahrelang Geld besorgt haben.
Die Generalbundesanwaltschaft will offenbar noch in diesem Monat Anklage erheben. Wie viele der 13 Beschuldigten sich dann tatsächlich vor Gericht verantworten müssen, ist unklar. »Die Ermittler stehen mit ziemlich leeren Händen da«, resümiert Hansen. »Würden Böhnhardt und Mundlos noch leben, man könnte ihnen wohl bis heute nicht nachweisen, wer wo vor Ort war und wer wen erschossen hat.«