Salafistische Unruhen in Tunesien

Aufruf zum Jihad gegen al-Nahda

Die tunesischen Salafisten fühlen sich von der islamistischen Regierungspartei al-Nahda verfolgt, Oppositionelle von »Milizen« derselben Partei.

Es war ein dramatischer Auftritt, den der selbsternannte Imam Nasreddine Alaoui am Donnerstag voriger Woche vor den Kameras von Ettounsiya TV gab. »Ich habe nach dem Tod der zwei Märtyrer mein Leichentuch vorbereitet und rufe die Jugendlichen des islamischen Erwachens dazu auf, das gleiche zu tun, denn die Bewegung al-Nahda und andere politische Parteien wollen Wahlen auf den Ruinen und den Kadavern der salafistischen Bewegung.« Er werde »gegen diese Leute Krieg führen, denn der Innenminister und die Führer von al-Nahda haben sich die Vereinigten Staaten als ihren lieben Gott gewählt«.
Ein starkes Stück – ein salafistischer Imam, der zum Jihad gegen die Islamisten der Regierungspartei al-Nahda aufruft. Vorangegangen waren schwere Auseinandersetzungen zwischen der tunesischen Nationalgarde und Salafisten im Stadtteil Douar Hicher im Nordwesten von Tunis. Der Auslöser war ein »großer Klassiker der religiösen Feste«, schrieb Seif Soudani auf der oppositionellen Website nawaat.org. Das Opferfest sei für die Salafisten eine gute Gelegenheit gewesen, um ihre Mischung aus Missionszug und Strafexpedition durchzuführen, diesmal erneut gegen Verkäufer von Alkohol. Am vorvergangenen Wochenende wurde bei der Randale rund um die Moschee von Douar Hicher, die die Salafisten als Stützpunkt nutzen, ein Offizier schwer am Kopf verletzt. Nach der Verhaftung eines angeblichen Salafisten griffen am Dienstag einige Hundert Salafisten zwei Posten der Nationalgarde in dem Stadtteil an. Zwei verletzte Sicherheitskräfte, zwei erschossene Angreifer, das war die offizielle Bilanz des Innenministeriums. Rached Ghannouchi, der Vorsitzende von al-Nahda, regte indessen an, Supermärkte, die Alkohol verkaufen, zu boykottieren.

In der Folge demonstrierten einige Hundert Mitglieder der Sicherheitskräfte vor dem Innenministerium im Zentrum von Tunis. »Wir verurteilen die Gewalttätigkeiten gegen die Beamten und fordern die Regierung auf, sehr schnell die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Beamten und ihre Familien, die bedroht werden, zu schützen«, erklärte Sami Gnaoui von der Gewerkschaft der Nationalgarde.
Einen Status als Opfer ungerechtfertigter Repression durch das von al-Nahda kontrollierte Innenministerium reklamieren indes die jihadistischen Salafisten, die in den vergangenen Monaten diverse gewalttätige Kampagnen unternommen haben. Nachdem einer von ihnen bei einem TV-Auftritt am Montagabend davon gesprochen hatte, 900 Salafisten seien gegenwärtig inhaftiert, sah sich Justizminister Noureddine Bhiri (al-Nahda) veranlasst, dies zu dementieren. Das Ministerium spreche nicht von der Verhaftung von Salafisten, sondern von Verhaftungen von Individuen, die gegen Gesetze verstoßen hätten, unabhängig von ihrer politischen oder religiösen Zugehörigkeit. Im Übrigen seien 50 Verdächtige wegen der Unruhen, deren Auslöser eine als blasphemisch beurteilte Kunstausstellung war, inhaftiert, 123 Personen seien wegen der Attacke auf das amerikanische Konsulat und die amerikanische Schule – dabei kamen im September vier Personen ums Leben – verhaftet worden, von denen 15 wieder freigelassen worden seien.
Aber nicht nur bei Aktionen von Salafisten sind Todesfälle zu verzeichnen. Bereits am 18. Oktober kam in Tataouine der lokale Koordinator der als Gegengewicht zu al-Nahda geltenden Partei Nida Tounès, Lotfi Nagdh, in der Folge einer Demons­tration ums Leben. Zu diesem Marsch, der »mit den Feinden des Volkes und der Revolution Schluss machen« sollte, hatte die Volksliga zum Schutz der Revolution von Tataouine aufgerufen. Lotfi Nagdh hatte sich in einem Gebäude verschanzt, vor das die Demonstration zog. Offenbar wurden aus dem Gebäude Steine und Molotow-Cocktails geworfen, einige Demonstranten stürmten es jedenfalls und lynchten Lotfi Nagdh. Die über das ganze Land verteilten Komitees und Ligen zum Schutz der Revolution wurden im vorigen Jahr zunächst von Linken gegründet, sind mittlerweile aber nach Ansicht von Oppositionellen zu »Milizen« von al-Nahda mutiert.