Rat der Regierungsgegner in Russland

Der Rat ist ratlos

In Russland wurde Ende Oktober ein oppositioneller Koordinationsrat, das wichtigste Gremium der Regierungsgegner, gewählt. Viel ist von ihm nicht zu erwarten. Die Regierung geht derweil repressiv gegen ihre Gegner vor.

Russlands nationale Selbstbestimmung ist bedroht. Dies suggerieren zumindest jene, die der Unterwerfung unter das Joch westlicher Großmächte standhaft ihre Treue zum Kreml entgegenhalten. Zu ihnen gehört Alexander Sidjakin, Abgeordneter der Partei Einiges Russland. Um den russischen Staat zu schützen, initiierte er Maßnahmen wie die Verschärfung des Versammlungsgesetzes und die Verpflichtung für NGOs, sich als »ausländische Agenten« zu kennzeichnen, falls sie finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten. Noch ist kein »ausländischer Agent« geoutet worden, denn das Gesetz tritt erst am 20. November in Kraft. Aber Sidjakin, der seine politische Karriere Mitte der neunziger Jahre als Anführer der Nationalbolschewistischen Partei in Twer begann, sorgt dafür, dass niemand vergisst, in wessen Auftrag die russische Opposition agiert.
Ende Oktober zerstampfte Sidjakin bei einer Sitzung der Duma demonstrativ ein weißes Band, das von weiten Teilen der Oppositionsbewegung als Erkennungszeichen verwendet wird. Das Band sei ein »Symbol für Kapitulation und Verrat, die Farbe einer exportierten Revolution, die ausländische Polittechnologen unserem Land beschert haben«, erklärte er mit Verweis auf einige im Saal sitzende Abgeordnete, die sich durch ihre aktive Unterstützung von Protestkundgebungen einen Namen gemacht hatten.

Einer, dem dieser Tadel sicherlich auch gegolten hätte, Gennadij Gudkow von der Partei Gerechtes Russland, musste bereits im September seinen Parlamentssessel räumen. Der ehemalige Offizier des KGB verlor sein Mandat, weil er gleichzeitig als Geschäftsmann tätig war – was jedoch insbesondere auch auf Abgeordnete des Einigen Russland zutrifft. Anfang November stellte die Generalstaatsanwaltschaft fest, Gudkow habe gegen kein Gesetz verstoßen, doch dessen Duma-Kollegen denken nicht daran, ihre einmal gefasste Entscheidung rückgängig zu machen. Gudkows Parteikollege Ilja Ponomarjow, der bereits zu Beginn der Proteste im vorigen Winter seine parlamentarische Tätigkeit mit außerparlamentarischem Protest zu ergänzen wagte, unterliegt noch bis Mitte November einem Redeverbot in der Duma.
Innerhalb des Gerechten Russland finden derweil heftige Debatten statt, wie oppositionelle Parteipolitik auszusehen habe und ob eine Teilnahme am Widerstand auf der Straße aus Parteiperspektive überhaupt zulässig sei. Seine Kandidatur für den Ende Oktober gewählten oppositionellen Koordinationsrat hatte Ponomarjow kurzfristig zurückgezogen. Er kritisierte die Wahlprozedur und das Vorgehen der liberalen Oppositionsführer, aktive oppositionelle Gruppen aus dem Entscheidungsprozess herauszudrängen. Der Koordinationsrat sei in seiner jetzigen Zusammensetzung keineswegs repräsentativ und als Rückschritt zu bezeichnen.
Etwa die Hälfte der knapp über 80 000 regis­trierten Wählerinnen und Wähler gab ihre Stimme Aleksej Nawalnyj, dem nationalistischen Antikorruptionspolitiker und Aufsichtsratsmitglied der nationalen Luftfahrtgesellschaft Aeroflot. Damit führt er die Liste der 45 gewählten Mitglieder des Rats an, vor dem Journalisten und Schriftsteller Dmitrij Bykow und Garri Kasparow. Dem Wahlergebnis lässt sich entnehmen, dass es fast nur in den Medien präsenten Personen aus dem liberalen Lager gelang, die Bevölkerung zur Abstimmung zu motivieren. Zudem dürfte die komplizierte Prozedur der Wählerverifizierung und der Abstimmung etliche Menschen abgeschreckt haben. Intransparenz wurde ebenfalls kritisiert, für den größten Skandal sorgte jedoch MMM-2012.
Der Mathematiker Sergej Mawrodi schuf Anfang der neunziger Jahre mit seiner Kapitalgesellschaft MMM das größte Pyramidensystem Russlands, nach dessen Zusammenbruch mehrere Millionen Anleger ihr komplettes Vermögen verloren. Nach einem mehrjährigen Gefängnisaufent­halt wegen Betrugs ging Mawrodi seiner alten Lei­denschaft wieder nach und rief neue Pyramidensysteme ins Leben, finanziell weniger erfolgreich als vor 20 Jahren, dafür politisch ambitioniert. Die derzeit populäre Kritik am Finanzkapital machte er sich zunutze, indem er behauptete, der Boykott von Banken und Kapitalanlagen zugunsten seiner Pyramide werde den Zusammenbruch des Finanzsystems herbeigeführen. Für den Koordinationsrat ließ er 60 Kandidaten re­gistrieren, die allerdings von der Wahlkommission ausgeschlossen wurden. Nachdem seine Auf­rufe zur Stimm­abgabe für Alternativkandidaten erfolglos geblieben waren, ließ er den Kontozugang von Aktionären der MMM-2012 bis zu deren Abstimmung sperren. Etwa 20 000 Aktionäre stimmten schließlich ab, wobei über die Hälfte dieser Stimmen als ungültig eingestuft wurden.

Da der Koordinationsrat nun schon einmal gewählt ist, will trotz zahlreicher Unstimmigkeiten niemand mehr an den Ergebnissen rütteln. Auch an inhaltlichen Auseinandersetzungen besteht kein großes Interesse. Der Nationalist Nawalnyj bezeichnet den Koordinationsrat als »Schritt zur Herausbildung einer Volksfront« und definiert ihn als »Organ, das Verantwortung trägt und allen anderen mitteilt, was zu tun ist«. Ob alle weiteren 44 Mitglieder des Rats dieses Kalkül in dieser Form mittragen, ist fraglich. Aleksej Gaskarow, der in der linken Fraktion die meisten Stimmen bekam, sieht die Funktion des Koordinationsrats rein pragmatisch. Obwohl die regierungskritische Protestbewegung in weiten Teilen links sei, halte er Lobbyarbeit für linke Politik innerhalb des liberal dominierten Rats für sinnlos. »Dessen Aufgabe ist es, die für die gesamte Opposition aktuellen Themen und Aktivitäten zu koordinieren«, sagte Gaskarow der Jungle World. »Das Ziel des Koordinationsrats besteht darin, die politische Situation zu destabilisieren und sich für die politischen Gefangenen einzusetzen.«
Mittlerweile laufen 18 Strafverfahren wegen der Beteiligung an sogenannten Massenunruhen am 6. Mai. Der Prozess gegen den einzigen Geständigen, der sich durch seine Kooperationsbereitschaft ein mildes Urteil erhofft, hat bereits begonnen. Die meisten der Beschuldigten befinden sich unter teils unzumutbaren Bedingungen in Untersuchungshaft. Wladimir Akimenkow, Mitglied der Linksfront, leidet unter einer Augenkrankheit und droht durch die strengen Haftbedingungen und die Unterbringung in einer Zelle ohne Tageslicht zu erblinden. Seine Sehkraft reduzierte sich bereits auf zehn Prozent auf dem einen und 20 Prozent auf dem anderen Auge. Ein Entlassungsgrund sei jedoch erst bei völligem Verlust der Sehfähigkeit gegeben, befand das Gericht bei der vor wenigen Tagen erlassenen Haftverlängerung um weitere sechs Monate.
Die Verantwortung für die als Massenunruhen bezeichnete Rangelei mit Polizeisondereinheiten bei einer Demonstration am 6. Mai wollen die Ermittler drei Vertretern der Linken zuschieben, von denen zwei, Konstantin Lebedew und der aus Kiew entführte Leonid Raswosschajew, derzeit im ehemaligen Hochsicherheitsgefängnis des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB einsitzen. Letzterer hatte sein unter Druck erzwungenes Geständnis revidiert (Jungle World 43/2012).
Auch wenn der Regierung derzeit keine akute Gefahr droht, ist die vielbeschworene politische Stabilität des Systems doch beeinträchtigt. Soziologen und Politologen konstatieren eine wachsende Unzufriedenheit mit dem derzeitigen Regierungskurs. Kürzlich gab der in Ungnade gefallene langjährige Berater von Wladimir Putin, Gleb Pawlowskij, der Zeitung Nowaja Gaseta ein ausführliches Interview. Darin äußert er die Befürchtung, dass die Machthaber völlig den Kopf verlieren könnten. Darauf deute nicht nur der repressive Charakter politischer Maßnahmen hin, sondern auch das völlige Fehlen eines wie auch immer gearteten Erneuerungspotentials.