Der Zustand der deutschen Autoindustrie

Es brummt nicht mehr

Die Absatzkrise in der europäischen Automobilindustrie verschärft sich. Nun drohen auch die deutschen Unternehmen Schaden zu nehmen.

Allen Behauptungen zum Trotz, die Industriestaaten hätten sich in »Dienstleistungsgesellschaften« gewandelt, spielt der industrielle Sektor nach wie vor eine zentrale Rolle. Davon zeugen nicht nur die jüngsten Pläne der EU-Kommission, eine gezielte Industrialisierungspolitik zu betreiben, vor allem der Automobilindustrie kommt immer noch eine wichtige Bedeutung zu. In Deutschland gilt sie als »Leitbranche«. Mit rund 730 000 Beschäftigten stellt sie hierzulande das größte Kontingent an Arbeitsplätzen. Sie erzielt den höchsten Umsatz in der deutschen Wirtschaft, ihr Exportüberschuss macht mehr als die Hälfte des Gesamtüberschusses aus. Insofern überrascht es nicht, mit welcher Verve sich Politiker aller Parteien in Szene setzen, sobald Arbeitsplätze in der Automobilindustrie auf dem Spiel stehen. Anlass dafür haben sie derzeit genug.
Spätestens seit der französische Autokonzern Peugeot-Citroën im Juli ankündigte, 8 000 Arbeitsplätze abzubauen, herrscht Aufregung in der Branche. Die Financial Times Deutschland bemerkte schon damals, dieser Schritt »könnte weitere Werkschließungen beschleunigen«. Mittlerweile stehen in Europa ein halbes Dutzend Fabriken zur Disposition, mehrere Zehntausend Arbeitsplätze sind gefährdet. Schon jetzt findet vermehrt Kurzarbeit statt, bei allen Konzernen stehen Kürzungs- und Restrukturierungsprogramme auf der Tagesordnung.

Hintergrund ist, dass die Absatzzahlen in Europa sinken. Waren diese mit dem Beginn der Wirtschaftskrise schon stark zurückgegangen, rechnet man in diesem Jahr nur noch mit zwölf Millionen Verkäufen in Westeuropa, das ist der niedrigste Wert seit 20 Jahren. Vor allem in Südeuropa ist der Absatz 2011 eingebrochen, in Griechenland und Portugal um 40, in Italien um mehr als 20 Prozent. Zwar ist der Absatz in Deutschland relativ stabil, doch von der Schwäche der südeuropäischen Absatzmärkte sind auch deutsche Unternehmen betroffen, allen voran die Kleinwagenhersteller. Die Marke Opel verzeichnete in der ersten Jahreshälfte auf dem europäischen Markt einen Absatzrückgang von 15 Prozent.
Ohnehin befindet sich die zu General Motors (GM) gehörende Marke in einer Dauerkrise. Mit Ausnahme des Jahres 2006 macht Opel seit 1999 horrende Verluste. Auch auf dem deutschen Markt verkaufte man in der ersten Jahreshälfte über neun, im September sogar 26 Prozent weniger Autos als im Vorjahreszeitraum. Damit wird die Frage nach der Zukunft des bedrohten Opel-Werks in Bochum wieder akut. Seit der Vorstandsvorsitzende Karl-Friedrich Stracke im Sommer gehen musste, rechnet man dort mit einer »Kahlschlagpolitik«, wie es der Betriebsratsvorsitzende Rainer Einenkel formulierte. Stracke hatte noch Anfang des Jahres von der Schließung des Bochumer Werks bis 2016 Abstand genommen. Dies geschah um den Preis eines Lohnverzichts: Die letzte tarifliche Lohnerhöhung von 4,3 Prozent wurde im vergangenen halben Jahr einbehalten. In der Zwischenzeit sollte mit den Vertretungen der Beschäftigten über einen »Deutschland-Plan« verhandelt werden, der die Sicherung der deutschen Standorte zum Ziel hatte. Die Verhandlungen kamen nach Strackes Rücktritt nicht zum Abschluss. Daher wurden im Oktober die einbehaltenen Löhne an die Beschäftigten ausgezahlt. Zugleich wurde jedoch die gleiche Prozedur für das nächste halbe Jahr vereinbart, um das Unternehmen zu entlasten. Damit arbeiten die Opel-Beschäftigten weiterhin unter Tarif.
Dass GM mit den Gewerkschaften über die Schließung von Standorten in Europa verhandele, wie Konzersprecher James Cain im August sagte, wurde von Einenkel zwar als »Unsinn« zurückgewiesen, doch es gibt Anzeichen, dass GM ab 2016 ohne die 3 100 Beschäftigten in Bochum plant. »Für das Opel-Werk Bochum wird nach dem Auslaufen des aktuellen Zafira-Tourer (…) kein neues Produkt geplant«, verkündete vorige Woche das Aufsichtsratsmitglied Steve Girsky. Bei der IG Metall versucht man, das herunterzuspielen. Man verweist darauf, dass es keinen offiziellen Schließungsbeschluss gebe, überdies arbeite man daran, den Konzern vom Erhalt des Werks zu überzeugen. Bereits seit Monaten existiert eine »Arbeitsgruppe Opel«, an der unter anderem das Wirtschaftsministerium, der Betriebsrat, die Gewerkschaft und Hochschulen beteiligt sind, um ein Zukunftskonzept für das Werk zu entwickeln. Insbesondere wird für die Produktion von Elektrofahrzeugen und für Forschung in der Batterietechnologie geworben. Zudem initiierte Nordrhein-Westfalens Wirtschaftsminister Garrelt Duin (SPD) nun eine weitere Arbeitsgruppe: »Bochum – Perspektive 2022«. Sie soll sich um Konzepte bemühen, wie mit »Flächenentwicklung« – etwa der Ansiedlung anderer Unternehmen – und »innovativen Technologien« der Standort gesichert werden kann. Allerdings mutet der Zweck der Arbeitsgruppe, die auch von GM finanziell unterstützt wird, fast schon wie ein Sozialplan an. »Die Interpretation drängt sich auf, dass damit nicht die Rettung des Bochumer Werks, sondern ein wie auch immer gearteter Erhalt für den ab 2017 verwaisten Standort vorbereitet werden soll«, schreibt die WAZ.

Nicht nur Opel bekommt die europäische Automobilkrise zu spüren. Im Oktober meldeten auch die deutschen Oberklassemarken Probleme. So kam es bei Audi in Neckarsulm zu Produktionskürzungen und Kurzarbeit, zugleich wurden Hunderte Leiharbeiter entlassen. Auch bei Daimler in Sindelfingen droht Hunderten Leiharbeitern die Kündigung, die Produktion der Mercedes-Benz-S-Klasse wird halbiert. Indessen geraten auch viele Zulieferer in Bedrängnis. Sie können dem Preisdruck der Hersteller nicht mehr standhalten, die verstärkt auf »Module« in verschiedenen Automodellen setzen, um höhere Stückzahlen einkaufen zu können. Dass kriselnde Unternehmen wie GM und Peugeot nun Allianzen schließen, um beim Bau von Fahrzeugmodellen und beim Einkauf zu kooperieren, dürfte diesen Trend noch verstärken.

Ob die deutsche Automobilindustrie ernsthaft von der Krisendynamik erfasst wird, ist nicht ausgemacht. Während in Belgien, England, Frankreich und Italien ganze Werke vor der Schließung stehen und Zehntausende Arbeitsplätze in Gefahr sind, wird für Deutschland weiterhin ein Ausbau des Industriezweigs prognostiziert. Immerhin schätzen Unternehmen weltweit, wie eine aktuelle Studie der Unternehmensberatung Ernst & Young zeigt, das »soziale Klima« und die »politische Stabilität«. Dabei spielen auch die Gewerkschaften eine Rolle, die für Standortgarantien und Kündigungsverzicht von Lohnsteigerungen und Streiks Abstand nehmen, wie die FAZ feststellt: Dadurch gewinne Deutschland »als Produktionsstandort weiter an Attraktivität«. Ein Modell für andere Länder, wo weniger harmoniesüchtige Gewerkschaften als Argument gegen Investitionen gelten, ist das jedoch nicht. Schließlich funktioniert dieses »Abgreifen« von Investoren eben nur, solange die Konkurrenzwirtschaften instabil sind. Sonst würde der Druck auf die deutschen Beschäftigten zurückschlagen. Entsprechend ist man bei den Gewerkschaften der Nachbarländer nicht gerade erfreut über das Co-Management des hiesigen Kollegen. »Die Deutschen«, sagte jüngst Rohnny Champagne, ein Funktionär der belgischen ABVV Metaal, »reden immer von europäischer Solidarität, aber in Wahrheit haben sie doch nur ihre eigenen nationalen Interessen im Blick.« Was er damit meint, macht Einenkel deutlich: Opel Bochum dürfe nicht geschlossen werden, weil es »das produktivste, effektivste und flexibelste Werk in Europa« sei. Mit der Devise, dass sich die Standorte »nicht ausspielen lassen« dürften, passen solche Anbiederungen kaum zusammen.