Der Gender-Gap-Bericht des World Economic Forum

Gerecht zum Geschlecht?

Der Gender-Gap-Bericht des Weltwirtschaftsforums befasst sich mit Geschlechterungleichheit in der Welt. Doch die Wahl der Indikatoren führt zu irreführenden Ergebnissen, entscheidende Diskri­minierungen werden nicht erfasst.

Für zahlreiche Gender-Indizes werden jährlich Daten darüber gesammelt, in welchen Ländern Geschlechtergleichheit auf welche Weise verwirklicht ist. Die Rankings, die dabei herauskommen, weisen erstaunliche Unterschiede auf. Nur eines bleibt immer gleich: Die skandinavischen Länder belegen die vordersten Plätze. Das war auch beim kürzlich veröffentlichten Gender Gap-Bericht des Weltwirtschaftforums für 2012 wieder der Fall. In 135 Ländern wurde der Gender Gap, die Kluft zwischen den sozialen Geschlechtern, für die Bereiche Bildung, Erwerbstätigkeit, Politik und Gesundheit untersucht. Das so erstellte Ranking taugte für schlechte Schlagzeilen, denn Deutschland belegt nur den 13. Platz und verschlechterte sich im Vergleich zum Vorjahr damit um zwei Plätze. Besonders peinlich war, wer alles vor Deutschland rangierte: nicht nur die Üblichen wie die skandinavischen Länder, die Schweiz, Neuseeland und die Niederlande, sondern auch die Philippinen und Nicaragua.
Frauenpolitisch machte Nicaragua zuletzt Schlagzeilen mit einem besonders rigiden Abtreibungsverbot. Und Scharen von Frauen verlassen jährlich die Philippinen, um sich auf der ganzen Welt als Hausmädchen ausbeuten zu lassen. Pa­radiese der Geschlechtergerechtigkeit stellt man sich anders vor. Grund genug also, den Gender-Gap-Index unter die Lupe zu nehmen. Den Herausgeberinnen und Herausgebern zufolge ist es Ziel der Erhebung, bewusst nur die Unterschiede zwischen den Geschlechtern im Land zu untersuchen und dabei Entwicklungsunterschiede zwischen den Ländern außen vor zu lassen. Damit soll eine Bevorzugung der Industrienationen wie bei anderen Indizes vermieden werden. Eine solche Bevorzugung gibt es beispielweise beim Gender Inequality Index (GII) des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen. Der GII misst wie auch der Gender-Gap-Index Unterschiede zwischen Männern und Frauen in den Bereichen Bildung, Erwerbstätigkeit und Politik, berücksichtigt aber auch Zahlen über Müttersterblichkeit und Schwangerschaften bei Teenagern. Tatsächlich finden sich beim GII auf den ersten 34 Plätzen nur westliche oder asiatische Indus­trienationen. Allein die USA liegen abgeschlagen auf dem Platz 47. Beim Gender-Gap-Index liegen die USA immerhin auf Platz 22.

Das liegt unter anderem am Indikator Gesundheit. Denn während der GII allein den Bereich der reproduktiven Gesundheit betrachtet, hat der Gender-Gap-Index sich die Lebenserwartung und das Verhältnis von Jungen zu Mädchen kurz nach der Geburt angesehen. Das ist sinnvoll, denn bei reproduktiver Gesundheit kann man nicht die Frage stellen, ob es einen Gender Gap gibt, sondern nur, ob adäquate Betreuung stattfindet oder nicht. Wenn man sich das Verhältnis von Jungen zu Mädchen kurz nach der Geburt ansieht, wird ersichtlich, ob es »fehlende Frauen« gibt, ob also selektiv weibliche Föten abgetrieben oder weibliche Neugeborene erdrosselt werden, weil die Eltern Söhne bevorzugen. Diese Relation ist ein durchaus üblicher Indikator zur Messung von Diskriminierung aufgrund des Geschlechts.
Die Lebenserwartung hingegen ist eine problematische Größe, das hat das Gender-Kompetenz-Zentrum bereits vor fünf Jahren kritisiert, weil die Lebenserwartung von Männern und Frauen von vielen Faktoren beeinflusst wird. Frauen haben das große Risiko von Schwangerschaft und Geburt. Wird dieses Risiko durch geringere Geburtenzahl, spätere Mutterschaft und medizinische Betreuung verringert, ist die Lebenserwartung von Frauen höher als die von Männern. Deshalb leben in den Industrie- und Schwellenländern Frauen im Schnitt fünf Jahre länger. Im Gender-Gap-Bericht wird immerhin die gesunde Lebenserwartung gemessen, also Alter minus Zeiten der Krankheit.
Der Gender-Gap-Index wertet allerdings nicht nur einen besonders kleinen Gender Gap als positiv, sondern auch eine Begünstigung von Frauen. So landet beim Indikator Lebenserwartung Russland auf Platz eins, weil Frauen dort im Durchschnitt zehn Jahre älter werden als Männer. Das hat aber nichts mit Geschlechtergerechtigkeit zu tun, sondern liegt vor allem am Risikoverhalten russischer Männer. Mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 55 Jahren sterben diese nicht nur über 15 Jahre früher als Männer in Westeuropa, sondern auch rund zehn Jahre früher als Männer in Nordafrika. Ein wichtiger Grund dafür ist die Krankheit Alkoholismus, die deutlich mehr Männer als Frauen betrifft.
Selbst wenn der Indikator Lebenserwartung kombiniert wird mit dem des Verhältnisses der Geburten von Jungen und Mädchen, ergibt das Ranking für den Indikator Gesundheit insgesamt ein erstaunliches Bild: Auf den ersten 30 Plätzen finden sich mit Ausnahme von Finnland und Frankreich nur Entwicklungsländer. Dass es die USA auf Platz 33 schaffen, Russland auf Platz 34, aber Kanada und Deutschland gemeinsam auf Platz 52 landen, legt nahe, dass es hier zu einem paradoxen Effekt kommt: Länder, in denen Mütter versorgt werden, aber die öffentliche Gesundheitsversorgung ansonsten mangelhaft ist, schneiden besonders gut ab. Eine befriedigende Grundversorgung aller führt hingegen dazu, dass Männer länger leben, was ein schlechtes Ranking zur Folge hat.
Der Indikator Gesundheit sagt folglich wenig aus, wenn man die landespezifischen Bedingungen nicht kennt. Trotzdem macht er ein Viertel der Wertung aus. Aber auch der GII, der Müttersterblichkeit einbezieht, kann nicht wirklich befriedigen, wenn es um das Messen von Gleichheit geht. Denn eine stark patriarchale Gesellschaft kann viel Wert auf Müttergesundheit legen, so kommt beim GII Kuwait auf Platz 37, zehn Plätze vor den USA.

Ein dritter Index, der Gender-Equity-Index von Social Watch, untersucht dieselben Indikatoren wie GII und Gender-Gap-Index mit Ausnahme der Gesundheit. Das Ergebnis entspricht deutlich mehr den Erwartungen. Aber auch hier stellen sich Fragen: Herrscht in Namibia und auf den Philippinen wirklich mehr Geschlechtergleichheit als in Israel? Hier wirkt der Indikator der politischen Partizipation, der bei allen drei Indikatoren ähnlich erhoben wird. Denn gewertet wird nur die höchste Ebene: Kabinett und Parlament, besonders viele Punkte gibt es für ein weibliches Staatsoberhaupt. Die Philippinen hatten neun Jahre lang eine Präsidentin und werden deshalb hoch bewertet. Die Beteiligung von Frauen an der Politik auf kommunaler Ebene oder in der Zivilgesellschaft wird nicht bewertet, weil dafür die Daten fehlen. So kann ein Land wie Pakistan, in dem Frauen auf der unteren politischen Ebene weitestgehend marginalisiert sind, trotzdem punkten, weil es lange eine Präsidentin hatte. Dieser Indikator ist auch der Grund für das gute Abschneiden Nicaraguas. 40 Prozent der Parlamentsabgeordneten sind Frauen, auch das Kabinett ist fast paritätisch besetzt.
Was bringen aber solche Indizes, wenn sie auf den ersten Blick schwer nachvollziehbare Ergebnisse liefern? Das Weltwirtschaftsforum korreliert seinen Gender-Gap-Index mit der Wettbewerbsfähigkeit und stellt fest, dass die Wettbewerbsfähigkeit steigt, je geringer der Gender Gap ist. Die These, dass Geschlechtergerechtigkeit etwas mit Wohlstand zu tun hat, ist nicht zu widerlegen, und auch die anderen Indizes kommen zu diesem Ergebnis. Aber dem Weltwirtschaftsforum geht es nicht speziell um das Wohlergehen der Gesamtbevölkerung, sondern eben um Wettbewerbsfähigkeit. Da ergibt es Sinn, auch Entwicklungsländern eine Chance beim Ranking zu geben. Auch schafft es der Gender-Gap-Index, dass die USA mit Platz 22 akzeptabel abschneiden, während GII nur Platz 47 und Social Watch nur Platz 50 vergeben.

Trotzdem bietet der Gender-Gap-Bericht im Detail interessante Erkenntnisse. Geschlechterdiskriminierung funktioniert nicht überall gleich und es gibt Lichtblicke, wo man sie nicht erwartet hätte. So weisen Frauen in Nordafrika gern darauf hin, dass bei ihnen zwar manches im Argen liege in punc to Gleichberechtigung, sie aber auch einige Probleme der europäischen Frauen nicht hätten: Der Kampf um gleichen Lohn für gleiche Arbeit sei bei ihnen nicht notwendig. Der Gender-Gap-Index zeigt, dass sie in diesem Punkt Recht haben. Auf den ersten Platz in Sachen Lohngerechtigkeit hat es Ägypten geschafft. Deutschland liegt abgeschlagen auf dem 90. Platz. Die weltweit größten Lohnunterschiede haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Frankreich festgestellt.
Insgesamt schafft es Ägypten allerdings nur auf Platz 126. Eine Ägypterin hat schlechtere Chancen, die Schule abzuschließen und eine Universität zu besuchen, fast keine Chancen auf ein politisches Amt und geringe Chancen, überhaupt einen qualifizierten Beruf zu ergreifen. Aber wenn sie es dennoch schafft, dann verdient sie hinterher genauso viel wie ihr männlicher Kollege.
Auch beim Indikator Wirtschaft gibt es Grund, das Ranking des Gender-Gap-Berichts in Frage zu stellen. So erhält Burundi den ersten Platz bei der Erwerbsbeteiligung: 92 Prozent der Frauen im erwerbsfähigen Alter arbeiten, von den Männern sind es nur 88 Prozent. Die hohen Zahlen erstaunen. Burundi hat, glaubt man anderen Quellen, eine besonders hohe Arbeitslosigkeit. Davon abgesehen fragt es sich, ob ein solches Ergebnis denn wirklich gut für die Frauen in Burundi ist. Wenn deutlich mehr Frauen als Männer erwerbstätig sind in einem Land, in dem Frauen durchschnittlich sechs Kinder bekommen, heißt das sehr wahrscheinlich, dass es keinerlei Mutterschutzzeiten gibt und die Männer dieses ­Defizit nicht ausgleichen.
Die Kritik, dass der Gender-Gap-Bericht die politischen Rahmenbedingungen für Frauen ignoriere, ist schon früher geäußert worden. Deshalb haben die Autorinnen und Autoren diesmal einen Anhang zusammengestellt, der Elternzeit, Kinderbetreuung, Steuergesetzgebung und Antidiskriminierungsgesetzgebung in den untersuchten Ländern beleuchtet. In das Ranking fließt das allerdings nicht ein.
Den gesellschaftlichen und juristischen Rahmen untersucht ein vierter Index, allerdings nur für Entwicklungsländer: Der Social and Institutions Gender Index (SIGI) des Entwicklungsprogramms der OECD. Darin werden Familiengesetzgebung, Bürgerrechte, Zugang zu Land und Eigentum genauso wie Anzahl von Vergewaltigungen und die Bevorzugung von Söhnen untersucht. Die Liste scheint relativ willkürlich. Das daraus resultierende Ranking ergibt aber Sinn. Im Ergebnis liefert dieser Index einen Anhaltspunkt für Diskriminierungserfahrungen, die für die Masse der Frauen bedeutend sind. Mehr Ministerinnen nützen schließlich wenig, wenn Gewalt gegen Frauen nicht verfolgt wird und eine Scheidung schwierig ist.