Spanien vor dem Generalstreik

Oma muss es richten

In Spanien ist die soziale und wirtschaftliche Lage vor dem angekündigten Generalstreik desaströs.

Der spanische Ausdruck tiene arreglo ist nur schwer ins Deutsche zu übersetzen. Kontextabhängig bedeutet er: »Das kann man regeln« oder »Das wird schon wieder!« »Tiene arreglo« heißt auch eine der bei Spanierinnen und Spaniern sehr beliebten Fernsehshows, in denen menschliche Schicksale einem gerührten Publikum vorgeführt werden. Während es in Sendungen wie »Erzähl, wie es geschah« oder »Sag mir die Wahrheit« vornehmlich um Ehebruch, verstoßene Kinder oder unangenehme Familiengeheimnisse geht, ist »Tiene arreglo« eine Bettelshow: Schluchzende Menschen berichten von ihrer desolaten finanziellen Lage und blicken erwartungsvoll in die Kamera, während der aktuelle Spendeneingang eingeblendet wird.
Derzeit erreicht »Tiene arreglo« 15,4 Prozent der spanischen Fernsehzuschauerinnen und -zuschauer, die sich mit den in der Sendung Vorgeführten in der Regel identifizieren dürften. Die Lage in Spanien ist schlimm bis aussichtslos: So liegt die Jugendarbeitslosigkeit derzeit offiziell bei 52 Prozent, nach Griechenland die höchste innerhalb der gesamten Europäischen Union. Nirgendwo sonst gibt es so viele Schulabbrecher, wie die Unesco am 16. Oktober mitteilte, und nirgendwo sonst in der EU ist die Kluft zwischen Armen und Reichen so groß wie mittlerweile in Spanien, berichtete die spanische Tageszeitung El Pais.

Die Arbeitslosigkeit hat unheimliche Ausmaße angenommen, gleichzeitig wächst der Druck auf diejenigen, die noch in Arbeit sind. »Meine Schwester ist Historikerin, hat eine Stelle in der Universität«, berichtet die Übersetzerin Marta Maria F. in Madrid, »und musste eine dramatische Gehaltseinbuße hinnehmen. Meine Mutter ist Steuerberaterin und bekommt fast keine Aufträge mehr, mein Freund sucht seit Monaten einen Job. Besonders schlimm aber ist es für alle, die jetzt Mitte 50 sind und entlassen werden.«
Wer während der letzten zehn Jahre vor seiner Verrentung nicht in Arbeit war und somit nicht mehr in die Rentenversicherung eingezahlt hat, verliert die Rentenansprüche, die er oder sie sich während eines langen Arbeitslebens in den Jahren zuvor erworben hat. Aus diesem Grund hat Pepe M. aus Sevilla einen Arbeitsplatz im rund 700 Kilometer entfernten Cartagena akzeptiert und pendelt seit zwei Jahren im Zwei-Wochen-Rhythmus zwischen Familie und Job. Der 60jährige hat zwei Söhne, von denen der eine arbeitslos ist und der andere studiert. Seine Frau Lola findet die Situation absurd. »Um uns zu sehen, treffen wir uns manchmal in der Mitte«, erzählt sie, »und nehmen uns in Granada ein Hotelzimmer. Ich komme mir vor wie eine 16jährige, die sich heimlich mit ihrem Freund trifft.« Die beiden müssen noch fünf Jahre durchhalten, selbst wenn die Kosten für die Unterkunft am Arbeitsplatz und das Benzin vom Lohn des Handwerkers nicht viel übrig lassen – aber Pepe M., der auf ein mehr als 40jähriges Arbeitsleben zurückblickt, kann auf die Rente nicht verzichten.
Dass die Rente unter Umständen vom Staat aus Spargründen wieder gestrichen werden kann, wirkt sich wiederum auf die Kinder und Enkel der Betroffenen aus, die oft von den Pensionen der Älteren mit durchgefüttert werden müssen. Ramón F. ist 28 Jahre alt und hatte von einigen Aushilfstätigkeiten in Cafés oder Kneipen ab­gesehen noch nie einen richtigen Job. Er lebt im südspanischen Cádiz im Haus seiner Großmutter; seine Eltern, die in einer Kleinstadt in der Nähe wohnen, können ihn nicht mehr ernähren.

Mit großer Dreistigkeit verlässt sich die konservative Regierung unter Mariano Rajoy vom Partido Popular auf das »familiäre Netz«, auf das man im familienorientierten Spanien tatsächlich stärker bauen kann als in mittel- oder nordeuropäischen Ländern. Doch bereits in den neunziger Jahren war zu konstatieren, dass junge Menschen verstärkt von ihren Eltern abhängig blieben und noch bei ihnen lebten, als ihre deutschen oder französischen Altersgenossinnen und -genossen längst ausgezogen waren. Dass es mittlerweile oft die Großeltern sind, die für ihre arbeitslosen Enkel einspringen müssen, sofern sie es noch können, zeigt, in welch miserabler Situation sich das Land tatsächlich befindet.
Und wo eine Generation fast geschlossen auf den Sparstrumpf der Großmutter zurückgreifen muss, steht auch das auf dem Spiel, was bisher besser war als in anderen europäischen Ländern. »Deutsche Gesundheit in Spanien?« fragten Pablo Montalvo und Ian Pérez López am 18. Oktober in der Tageszeitung Diario de Cádiz und diskutierten, ob das spanische Gesundheitssystem nach deutschem Vorbild saniert werden müsse. Bislang sind alle spanischen Bürger und Bürgerinnen automatisch krankenversichert. Wer erkrankt, begibt sich in eines der staatlichen Krankenhäuser, legt seinen Ausweis vor und wird kostenlos behandelt. Das Gesundheitssystem wird aus Steuermitteln ­finanziert, das derzeit niedrige Steueraufkommen erschwert aber dessen Finanzierung. Deshalb werden Maßnahmen von der Privatisierung bis zur Krankenversicherungspflicht nach deutschem Vorbild diskutiert, letzteres Modell wird sich wohl durchsetzen. Ein Ende der Diskussion ist nicht absehbar, seit Monaten häufen sich aber Berichte von und über Migranten, die sich illegal in Spanien aufhalten, und in den Krankenhäusern nicht mehr behandelt werden.

»Was machen wir jetzt mit sechs Millionen Einwanderern?« fragte El Pais am 22. Oktober mit Verweis auf die Tatsache, dass 35 Prozent aller Zuwanderer keinen Job mehr haben, und diskutierte recht unverblümt die Möglichkeit, dass und wie sie weiter ziehen könnten in andere Länder, in die ohnehin immer mehr junge Spanierinnen und Spanier auswandern, um dort ihr Glück zu suchen. Renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler warnen vor dem Verlust einer ganzen Generation an akademischem Nachwuchs, sorgenvolle Texte werden verfasst, und wer sich in Madrid, Sevilla oder Cádiz in ein Café setzt und den Gesprächen an den umstehenden Tischen lauscht, merkt schnell, dass es hier fast nur ein Thema gibt: die Krise und die Angst davor.
Ein anderes wichtiges Thema ist der Generalstreik. Für den 14. November haben die wichtigsten Gewerkschaften UGT und CCOO zum zweiten Generalstreik in diesem Jahr aufgerufen. Es soll einen länderübergreifenden Aktionstag geben, zu dem auch der Europäische Gewerkschaftsbund aufgerufen hat. Bislang wurden in Portugal, Griechenland, Italien, Malta und Zypern ebenfalls Generalstreiks angekündigt. In Spanien richtet er sich in erster Linie gegen die Politik des Ministerpräsidenten Rajoy, der angekündigt hat, 102 Mil­liarden Euro bis 2014 einsparen zu wollen. Vor allem Rentnerinnen und Rentner, Studierende, Schülerinnen und Schüler und Arbeitslose werden davon noch schlimmer betroffen sein als bisher schon. Das staatliche Bahnunternehmen Renfe soll privatisiert werden, die Fluggesellschaft Iberia hat Entlassungen angekündigt.
Doch selbst den Streik versucht die Regierung im Sinne der Einsparungen zu nutzen. »Ich musste unterschreiben«, erzählt Lola, die als Grundschullehrerin eine Staatsbedienstete ist, »dass man mir diesen Tag vom Gehalt abzieht, wenn ich mich am Streik beteilige.« Die Stimmung ist, wenn überhaupt, nur verhalten optimistisch. Im Grunde denken wohl alle dasselbe: Eso no tiene arreglo! Das wird nicht wieder!