Süßes oder Saures?

Journalisten lieben Jahrestage. Da gibt es keine unangenehmen Überraschungen, man kann langfristig planen. Allerdings muss man befürchten, dass die Konkurrenz schneller sein könnte. Deshalb kann schon jetzt prophezeit werden, dass Sie spätestens im September kommenden Jahres mit einer Vielzahl von Biographien, Dokumentationen und Verschwörungstheorien bombardiert werden, weil niemand bis zum 22. November, dem 50. Jahrestag der Ermordung John F. Kennedys, zu warten wagt. Noch eiliger hat es allerdings die evangelische Kirche. Erst am 31. Oktober 2017 ist der 500. Jahrestag der Reformation, doch man hat bereits begonnen, die Feiern vorzubereiten.
Es ist gar nicht so schwer, jungen Leuten das Ereignis zu erläutern. Man muss sich die Kirchentür nur als Facebook der frühen Neuzeit vorstellen. Auf Martin Luthers Posting reagierte der Papst mit »Gefällt mir nicht«, ein gewaltiger Shitstorm fegte durch die christliche Welt, doch da Luthers Freundschaftsanfragen von einigen mächtigen Fürsten erhört wurden, überstand er das Mobbing, und fortan konnten protestantische Geistliche die Statusmeldung »verheiratet« posten. Aber was gibt es da eigentlich zu feiern? Bundeskanzlerin Angela Merkel möchte »das Gemeinsame unserer Religion in den Vordergrund stellen«. Doch Luther stellte das Trennende in den Vordergrund: »Ich bin erschrocken und meinte zu glauben, es donnerte so sehr, so einen großen, scheußlichen Fortz hat der Papstesel fahren lassen.« Die Juden mochte er übrigens auch nicht. Das war damals noch weniger ungewöhnlich als heute, und es ist eine billige Übung, sich durch die Verurteilung historischer Persönlichkeiten einen Distinktionsgewinn zu verschaffen. Doch muss gefragt werden: Wofür stand Luther denn nun? Wenn Merkel sich »missionarische Impulse« wünscht und betont, die Bundesrepublik sei »ausdrücklich nicht laizistisch gegründet worden«, ist es zwar beruhigend, dass die von ihr und vielen anderen gewünschte, dem Standort Deutschland verpflichtete Wellness-Religiosität, die Erbauung als Ersatz für Prozac betrachtet, so inhaltsleer ist. Doch wäre nicht ein wenig mehr Respekt vor der Religion angebracht? Ist die Vorstellung, man könne sich durch »Wertevermittlung« von seinen Sünden reinwaschen, nicht eine moderne Form des Ablasshandels? Die Merkels dieser Welt lieben Luther, weil er die Arbeit und den Staat geheiligt hat. Doch die Grundidee des Protestantismus ist die Unmittelbarkeit des Einzelnen zu Gott, und das hat etwas mit Individualisierung und dem Gebrauch des eigenen Verstandes zu tun. Luther, der sein Profil mit Rücksicht auf die Wünsche seiner Fürstenfreunde modifizierte, hat diese Idee nicht konsequent verfolgt. Doch ist es auch ihm zu verdanken, dass man am 31. Oktober 2017 die Feierlichkeiten zu seinen Ehren ignorieren und sich mit einem ausgehöhlten Kürbis auf dem Kopf herumtreiben kann.