In Großbritannien wächst die Ablehnung der EU

Should we stay or should we go?

Wer braucht schon Europa? Die britische Regierung streitet dafür, dass der EU-Haushalt nicht erhöht wird. Viele Konservative stellen sogar die EU-Mitgliedschaft in Frage.

In der vergangenen Woche trafen sich Angela Merkel und der britische Premierminister David Cameron zum Abendessen in London. Bereits in der Vorwoche war dessen Außenminister William Hague in Berlin. Im Mittelpunkt der intensiven deutsch-britischen Verhandlungen steht der zukünftige Haushalt der EU. Deutschland und Großbritannien sind die beiden größten Nettozahler der EU. Sie lehnen die Pläne der EU-Kommission ab, den Beitrag der Mitgliedstaaten für den EU-Haushalt in den kommenden Jahren um jeweils fünf Prozent zu erhöhen. Doch trotz der gemeinsamen Ablehnung des Kommissionshaushaltes könnten die Positionen der beiden Regierungen kaum unterschiedlicher sein.
Während Merkel ein in Europa-Fragen loyales Parlament hinter sich hat, steckt Cameron, selbst kein Freund der EU, mitten in einer neuen europapolitischen Krise. Ende Oktober hatten Labour und die rechten antieuropäischen Tories der Regierung Cameron eine erste Abstimmungsniederlage im Parlament beschert. In einem Antrag verlangten die Abgeordneten von der konservativen Regierung, bei den Verhandlungen für den EU-Haushalt in Brüssel auf Kürzungen zu bestehen. Zwar ist diese Willenserklärung für die Regierung nicht bindend, doch der EU-Haushalt muss vom Parlament bestätigt werden.

Die Forderung der Parlamentarier geht über die von Cameron vertretene Position hinaus, den Haushalt nur entsprechend der Inflationsrate zu erhöhen. Deutschland und Irland haben unterdessen vorgeschlagen, den EU-Haushalt bei einem Prozent des Bruttosozialproduktes zu fixieren, was einer leichten realen Steigerung des Haushalts gleichkäme, allerdings unter den von der Kommission vorgeschlagenen fünf Prozent bleibt. Viele Länder aus der Gruppe der Nettozah­ler stimmen diesen moderaten Vorschlägen zu, während die Empfängerländer im Süden und Osten Europas den Kommissionsvorschlag stützen. Die Forderungen des britischen Parlaments nach Kürzungen sind angesichts dieser Interessenlage unrealistisch, das weiß Cameron.
Wie Außenminister William Hague im Parlament sagte, haben nicht nur die Briten ein Veto bei den Haushaltsverhandlungen, sondern auch die anderen EU-Länder. Diese werden in den Verhandlungen darauf hinweisen, dass die Briten bereits jetzt einen Bonus haben, den sogenannten Briten-Rabatt, 1984 von Margaret Thachter ausgehandelt. Derzeit beträgt dieser Rabatt ganze fünf Milliarden Pfund. Er wird durch die anderen EU-Staaten ausgeglichen, wobei bestimmte Nettozahler wie Deutschland, Österreich, Schweden und die Niederlande ihrerseits einen Rabatt auf den Rabatt bekommen. Dänemark, ein weiterer Nettozahler, fordert dies nun auch.
Cameron, so viel ist sicher, wird es Ende November bei den Verhandlungen in Brüssel wohl kaum allen recht machen können. Sollte er einem ungekürzten europäischen Budget zustimmen, erwarten ihn eine weitere Abstimmung und womöglich eine Rebellion im Parlament. Dann kommt es darauf an, ob die Labour Party ernst macht und wieder mit den konservativen EU-Gegnern stimmt. Oder Cameron entscheidet sich für das Veto, das er bereits angedroht hat. Damit würde er politisch zunächst etwas Ruhe zu Hause gewinnen. In den EU-Gremien allerdings würde er damit die letzten Sympathien verspielen, die insbesondere in Deutschland noch vorhanden sind.
Ohne Kompromiss wird das Budget der EU im Januar automatisch um zwei Prozent angehoben, entsprechend der Inflationsrate. Die britischen Beitragskosten würden also deutlich steigen. Dabei scheint ein Kompromiss nicht unerreichbar. Die Differenz zwischen dem Vorschlag Camerons und dem der deutschen und irischen Regierung beträgt etwa 500 Millionen Pfund pro Jahr. Dies sei relativ wenig, findet das proeuropäische Centre for European Reform in London, das die Zahlen vorlegte. Doch was bedeutende Summen sind, ist eine politische Frage. In Großbritannien geht es um die Rolle der Briten in der EU.
Während die Konservativen seit Jahrzehnten mit dieser Frage hadern, verändert sich anscheinend nun auch die Position von Labour. Es war überraschend, dass Labour sich entschied, mit den EU-Kritikern unter Camerons Abgeordneten zu stimmen. Noch im vorigen Jahr, nach Camerons Veto gegen den EU-Fiskalpakt, der schließlich außerhalb der EU-Gremien ratifiziert werden musste, kritisierte die Labour Party die isolationistische Politik der Regierung. Er habe sich von den Rechten in seiner Fraktion treiben lassen und wichtige europäische Partner vor den Kopf gestoßen, meinte der Parteivorsitzende Ed Miliband damals. Zuvor hatte die Labour Party Cameron gegen eine erste Rebellion seiner mehrheitlich euroskeptischen Fraktion noch unterstützt. Die Abgeordneten hatten ein Referendum über den Verbleib in der EU gefordert, das von Cameron im Wahlkampf versprochen, im Koalitionsvertrag mit den proeuropäischen Liberaldemokraten dann aber nicht festgeschrieben wurde. Damals stimmte Labour mit der Regierung und die Initiative der EU-Gegner scheiterte.
Nun allerdings entschied sich Miliband für die andere Seite. Von Gegnern wie Anhängern von Labour wurde er dafür als Opportunist gescholten. Die Tageszeitung Sun meinte, Miliband solle sich keine Illusionen darüber machen, dass die britischen Wähler nun der Labour Party in europapolitischen Fragen vertrauten. Margaret Hodge, die Vorsitzende des Haushaltsausschusses und prominente Labour-Abgeordnete, wurde dabei gefilmt, wie sie in einem Privatgespräch die Entscheidung Milibands als »hasserfüllt« und »ungeheuerlich« bezeichnete – die Kamera lief versehentlich bereits vor der Abstimmung.

Ob die Labour Party einen Strategiewechsel vollzieht oder die gemeinsame Abstimmung mit der Tory-Rechten das taktische Ziel verfolgte, Cameron zu schwächen, darüber spekulieren derzeit die britischen Medien. Es gilt als sicher, dass ihr finanzpolitischer Sprecher, Ed Balls, zu einem eher EU-kritischen Kurs neigt. Nach der Abstimmungsniederlage der Regierung wies Balls die Kritik an seiner Partei zurück: Hier gehe es um das nationale Interesse. Alle Parteien unterstützten die Forderung, dass der britische Beitrag zum EU-Budget in Zeiten der Sparpolitik sinken müsse. Die Labour Party will nun auch nach den nächsten Parlamentswahlen 2015 ein Referendum zur EU abhalten. Doch eine klare europapolitische Strategie hat die Partei bisher nicht entwickelt.
Eine Entscheidung über die britische Zukunft in der EU scheint überfällig. Doch unklar ist, ob ein Referendum diese komplexen Fragen wirklich klären kann. Proeuropäische Labour-Politiker wie der verteidigungspolitische Sprecher Jim Murphy befürworten ein einfaches Votum für oder gegen den Verbleib in der EU. Sie erhoffen sich damit sowohl ein Ende der Debatte als auch ein Mandat für den Verbleib, denn die meisten Briten schrecken vor einer vollständigen Abkehr von der EU zurück. Auch viele Unternehmer argumentieren gegen eine Abkehr von Europa. Selbst die mächtige Finanzindustrie, die die Brüsseler Regeln scheut, profitiert vom freien Zugang zum riesigen EU-Finanzmarkt. Die verbleibenden großen Industriebetriebe in Großbritannien profitieren ebenfalls vom Binnenmarkt. Doch eine Umgestaltung der EU zu einer Freihandelszone und einem Binnenmarkt ohne politische Union, was am ehesten den britischen Interessen entspräche, ist in der derzeitigen EU nicht durchsetzbar.
Überdies gilt es für die Briten auch noch die Rolle und Zukunft der britischen Union zu bedenken. Denn unter den Walisern und Schotten wie auch in Nordirland wird die EU weitaus positiver beurteilt als in England. Carwyn Jones, der walisische Ministerpräsident, warnte in der vergangenen Woche, dass eine britische Abkehr von der EU die separatistischen Tendenzen in Schottland und Wales verstärken könne.