Warum Barack Obamas Wahlsieg gut für die USA ist

Wert und Marktwert

Der Wahlsieg Barack Obamas hat eine Verrohung der gesellschaftlichen Verhältnisse in den USA verhindert.

»Jedes Gewehr, das produziert wird, jedes Kriegsschiff, das vom Stapel gelassen wird, jede Rakete, die abgefeuert wird, ist letztlich Diebstahl von jenen, die hungrig sind und nicht genährt, die frieren und nicht eingekleidet werden«, sagte der US-Präsident. »Die Programme für Gesundheit, Bildung und soziale Sicherheit, die ihren Wert bewiesen haben, sollten unermüdlich verbessert werden. Ich habe bereits empfohlen, das soziale Sicherungssystem auszuweiten, damit bislang nicht einbezogene Personen geschützt werden.«
Nein, Barack Obama hat nicht den Linken in sich entdeckt. So äußerte sich der republikanische Präsident Dwight D. Eisenhower, ein rabiater Antikommunist, in dessen Amtszeit von 1953 bis 1961 die reichsten Amerikaner allerdings 91 Prozent Einkommenssteuer zahlten. Es ist daher absurd, den Republikanern vorzuwerfen, sie wollten die USA in die fünfziger Jahre zurückführen. Schön wär’s, möchte man fast sagen, doch herrschte in den Südstaaten damals noch das Apartheidssystem der »Segregation«, und in fast allen Bundesstaaten war Vergewaltigung in der Ehe legal.
Viele der seitdem erkämpften gesellschaftlichen Fortschritte haben auch die Republikaner akzeptiert, sie propagieren jedoch weiterhin christlich-patriarchale Werte. Während der klassische Konservatismus dem Staat eine lenkende Rolle zusprach und etwa die Sozialfürsorge als Mittel betrachtete, ein »tugendhaftes« Leben zu fördern, sieht die bei den Republikanern nun dominierende rechtslibertäre Doktrin allein marktwirtschaftliche Methoden zur Umerziehung der Armen vor. So empfiehlt das der Tea-Party-Bewegung nahestehende Cato-Institut eine weitere Kürzung der Transferzahlungen, um alleinerziehende Mütter zur Heirat zu zwingen. Und so ist auch Mitt Romneys Aussage zu verstehen, er müsse sich um jene 47 Prozent der Bevölkerung »nicht sorgen«, die angeblich »von der Regierung abhängig sind«. Menschen, die keinen ausreichenden Marktwert besitzen, sollen das Objekt einer neuen Form des social engineering sein, gelten aber nicht mehr als politische Subjekte, während George W. Bush einen »mitfühlenden Konservatismus« wenigstens noch propagierte.
Um eine Intrige des Großkapitals handelt es sich nicht. Big business spendete fast die gleichen Summen für Romney wie für Obama, dessen Politik der Stabilisierung des Kapitalismus zuträglicher sein dürfte. Der Druck kommt von unten, von überwiegend weißen Angehörigen der middle class, zu der in den USA Kleinunternehmer ebenso gezählt werden wie die Kernbelegschaften der Industriebetriebe. Die angry white men reagieren auf die Bedrohung ihrer noch auskömmlichen Existenz mit Aggression gegen arme Menschen und aufstrebende Bevölkerungsgruppen, die als illegitime Konkurrenz betrachtet werden.
Da die Rechtslibertären in den USA, anders als die staatsfixierten europäischen Rechten, big government tatsächlich hassen, kann man nicht von Faschisierung sprechen. Doch hätte ein mit kaum verhüllten sozialdarwinistischen Parolen errungener Sieg Romneys zu einer Verrohung der gesellschaftlichen Verhältnisse geführt. Deshalb ist seine Niederlage ein Grund zur Freude, auch wenn Obama wahrscheinlich noch vor Weihnachten weiteren Kürzungen im sozialen Bereich zustimmen wird.