»Gaza-Flotilla«-Prozess in Istanbul vertagt

Der Rächer der Märtyrer

In Istanbul sollen israelische Offiziere für den Tod propalästinensischer Aktivisten der »Gaza-Flotilla« im Jahr 2010 angeklagt werden.

Das erwartete Spektakel um den türkischen Schauprozess gegen vier ranghohe israelische Offiziere blieb aus. Ein paar hundert Demonstranten fanden sich zum Auftakt der Verhandlung vor dem Justizpalast im Istanbuler Stadtteil Çağlayan ein. Sie forderten »Israels Ende«, »Gerechtigkeit für die Palästinenser« und »Gerechtigkeit für die Märtyrer der Mavi Marmara«. »Der Protest ist den Märtyrern der Gaza-Flotilla gewidmet«, erläuterte Gülden Sönmez, Vorstandsmitglied der is­lamistischen »Stiftung für Menschenrechte und Freiheit« (IHH), am 6. November zu Beginn der drei Tage dauernden ersten Anhörung.

Die streng verschleierte Aktivistin gehörte zu den Organisatoren an Bord der »Mavi Marmara«, dem Hauptschiff einer Flotilla mit Hilfsgütern für den Gaza-Streifen und 576 Aktivisten. Am 31. Mai 2010 war das Schiff von der israelischen Marine noch in internationalen Gewässern vor der israelischen Küste geentert worden. Neun Menschen wurden bei der Operation getötet, 54 verletzt. Dem damaligen Generalstabschef der israelischen Streitkräfte, Gabi Ashkenazi, und drei weiteren hochrangigen israelischen Militärvertretern wird vorgeworfen, für die Todesfälle und die Verletzten verantwortlich zu sein. In der Türkei war es damals zu einer weit über das islamisch-konservative Milieu hinausgehenden Solidarisierung mit den Opfern gekommen. Als die »Mavi Marmara« am 26. Dezember 2010 in Istanbul einlief, wurde sie mit einem enormen Medienspektakel empfangen. »Die Helden von der Mavi Marmara«, titelten viele türkische Zeitungen. Die türkische Öffentlichkeit reagierte allerdings in der Folge differenzierter auf den 2011 veröffentlichen Untersuchungsbericht der Uno, der Israel unangemessene Brutalität bei der Operation, den Organisatoren der Flotilla aber ebenfalls zweifelhafte politische Absichten, provokatives Auftreten sowie die Eskalation des Konfliktes attestierte. Die IHH unterhält Beziehungen zur radikal­islamischen Hamas in Gaza.
Der Auftakt des von der IHH als Klägerin initiierten Prozesses wurde im Massenblatt Hürriyet als »skandalbehaftet« gewertet. Die Organisation hatte über islamisch-konservative Medien verbreiten lassen, die israelischen Offiziere drückten sich vor der Teilnahme am Prozess. Tatsächlich waren die entsprechenden Vorladungen aufgrund von fehlenden Übersetzungen den Angeklagten gar nicht zugestellt worden. Das israelische Generalkonsulat in Istanbul sagte der Jungle World, dass keinerlei Austausch stattgefunden habe. Es sei zu keiner Kontaktaufnahme mit den Beschuldigten gekommen, keine Dokumente und Stellungnahmen seien angefordert worden.

Die Klägerseite hofft auf einen internationalen Haftbefehl. »Wir wollen Israel zur Verantwortung ziehen. Aufgrund internationaler Auslieferungsabkommen hoffen wir, dass man die Israelis vielleicht in einem Drittland festnehmen lassen könnte, oder dass Interpol ihre Festnahme bewirkt«, sagte Sönmez. Eine solche Entwicklung ist unwahrscheinlich. Doch die israelischen Offiziere laufen in der Zukunft Gefahr, bei einer Einreise in die Türkei festgenommen zu werden, sollten sie in Istanbul verurteilt werden.
Für viele der Wählerinnen und Wähler der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP entspricht der Prozess einem diffusen Wunsch nach Gerechtigkeit, auch wenn nicht alle die Ansichten der IHH unterstützen. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan beschuldigte die UN kürzlich erneut, Israels Menschenrechtsverletzungen zu ignorieren und eine »Vereinigung zur Förderung der Ungerechtigkeit« zu sein. Auch wenn die türkische Außenpolitik sich im Nahost-Konflikt wegen der gespannten Beziehungen zu Israel de facto selbst blockiert, umgibt den türkischen Ministerpräsidenten in dieser emotional aufgeladenen Situation innenpolitisch eine Aura des Gerechten im Kampf für die Entrechteten – genau das ist sein Ziel. Die regierungsnahen Medien sorgten pflichtgetreu für eine entsprechende Unterstützung. Der nun begonnene Prozess wurde nach Anhörung eines Teils der Geschädigten auf den 21. Februar 2013 vertagt.