Der Prozess gegen die französische Tarnac-Gruppe

Eine peinliche Affäre

Der Prozess gegen eine Gruppe angeblich »anarchistisch-autonomer Terroristen« in Frankreich droht nach vier Jahren zu platzen. Nicht zuletzt, weil der britische Spitzel Mark Kennedy auch in diese sogenannte Tarnac-Affäre verwickelt ist.

Bei James Bond sieht das alles viel besser aus: Selbst 20 französische Polizisten von der für »terroristische« Straftaten zuständigen Geheimabteilung waren offenbar nicht in der Lage, einem Auto auf nächtlicher Fahrt zu folgen, unter dem sie wohl eine GPS-Sonde angebracht hatten. Und dann kommt noch heraus, dass sie einem britischen Spitzel auf den Leim gegangen sind. Es geht bei der bereits vier Jahre andauernden sogenannten Tarnac-Affäre um eine Gruppe angeblich »anarchistisch-autonomer Terroristen«. Die Anwälte der Verteidigung stellten am 6. November neue Beweisanträge und forderten, ihnen möge endlich »die vollständige Akte der polizeilichen Nachrichtendienste«, statt wie bisher nur ausgewählte Auszüge, auf den Tisch gelegt werden. Am 12. November sprach sich der als »Rädelsführer« präsentierte Angeklagte Julien Coupat in Paris vor etwa zehn ausgewählten Journalisten aus, wo er – wie Le Monde formulierte – »auftauchte, um sich besser zurückzuziehen« und seinen Rückzug aus dem um ihn veranstalteten Medienrummel anzukündigen. Am 14. November folgte eine Pressekonferenz der Anwälte mit prominenter Besetzung in den Räumen des französischen Parlaments.

Die Tarnac-Affäre, die inzwischen in mehreren französischen Medien als »Staatsaffäre« gilt, nahm offiziell am 11. November 2008 ihren Anfang. An jenem Tag, der in Frankreich wegen des Gedenkens an das Ende des Ersten Weltkriegs ein gesetzlicher Feiertag ist, verhafteten 250 Polizisten frühmorgens in dem im französischen Zentralmassiv gelegenen Dorf Tarnac mehrere Mitglieder einer Landkommune, die dort einen Lebensmittelladen unter dem Namen »Magasin Général« betrieben. Bereits um 8.32 Uhr veröffentlichte das Pariser Innenministerium siegessicher ein Kommuniqué dazu. Gleichzeitig gab es polizeiliche Zugriffe in Rouen und Paris. Insgesamt 20 Personen wurden festgenommen, von denen neun in Haft behalten wurden. Einige kamen nach drei Wochen wieder frei, ihr angeblicher »Rädelsführer«, Julien Coupat, blieb hingegen weitere sechs Monate in Untersuchungshaft. Vorgeworfen wurde den Festgenommenen, vier Tage zuvor Sachschäden an Bahnlinien angerichtet zu haben, sie sollen Oberleitungen mit Hakenkrallen heruntergerissen haben. Auf den Schnellzugstrecken im Einzugsbereich Paris kam es damals deswegen zu ein- bis zweistündigen Verspätungen.
Später stellte sich heraus, dass die vermeintlich oder tatsächlich »anarchistisch-autonom« orientierten Personen, die festgenommen worden waren, offenbar nichts mit den Sabotageakten zu tun gehabt hatten. Denn im November 2008 traf bei der taz ein Bekennerschreiben von Atomkraftgegnern ein, die sich zu den Hakenkrallenanschlägen bekannten. Sollte dies stimmen, dann standen die Anschläge im Zusammenhang mit einem geplanten Castor-Transport vom französischen La Hague nach Deutschland sowie mit dem vierten Todestag von Sébastien Briat. Der junge Atomkraftgegner war am 7. November 2004 von einem Zug überrollt worden, nachdem er sich – ebenfalls aus Protest gegen einen Atommülltransport – an eine Schiene gekettet hatte.
Doch nach wie vor wird der sogenannten Tarnac-Gruppe die »Bildung einer terroristischen Vereinigung« vorgeworfen und gegen Coupat als ihrem vermeintlichen Anführer ermittelt. Für die »Gründung und Anführung einer Vereinigung im Zusammenhang mit einer terroristischen Unternehmung« drohen in Frankreich 20 Jahre Haft als Höchststrafe. Allerdings steht auch nach vier Jahren noch kein Verfahrenstermin fest. Einer der vormals zuständigen Untersuchungsrichter, Thierry Fragnoli, hat sich Anfang April von jeglicher Zuständigkeit für das Dossier entbinden lassen – weil er es nicht mehr ertragen habe, ständig von den Rechtsanwälten »persönlich attackiert zu werden«, wie er verlautbaren ließ. Die Anwälte hatten seine Unparteilichkeit angezweifelt, weil Fragnoli sich in E-Mails mit Journalisten – die er als »Freunde in der freien Presse, also jener Presse, die noch nicht unter der Fuchtel von Coupat und Anwälten steht«, ansprach – eindeutig und in eher subjektiver denn sachdienlicher Weise geäußert hatte. Eine solche E-Mail war am 14. März von der Wochenzeitung Le Canard enchaîné veröffentlicht worden. Die seitdem noch mit dem Dossier befassten Untersuchungsrichter sollen nach Zeitungsberichten inzwischen Zweifel hegen, ob der »Terrorismus«-Vorwurf wirklich haltbar sei. Einige Überlegungen ihrerseits sollen darauf hinauslaufen, das Verfahren unter einem anderen Anklagepunkt als dem »terroristischer Straftaten« zu eröffnen, um noch das Gesicht zu wahren und sich aus der aktuellen Affäre herauszuziehen.

Die neuesten Veröffentlichungen ließen abermals peinliche Details für die Ermittler zum Vorschein kommen. So stellte sich heraus, dass ein Team von 20 Polizisten der DCRI – einer im Juni 2008 aus einer Fusion der früheren polizeilichen Nachrichtenabteilung RG mit dem ehemaligen Inlandsgeheim- und Spionageabwehrdienst DST hervorgegangenen Behörde – bereits seit April 2008 Coupat und seiner damaligen Freundin und inzwischen Ehefrau, Yldune Lévy, ständig folgte. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatten die Ermittler sogar eine GPS-Sonde unter ihr Auto geklebt. Dies lässt sich aus den durchgesickerten Beobachtungsprotokollen herleiten, da die Ermittler jedes Mal, wenn die Beschatteten in eine Tiefgarage fuhren, angaben, dass die Überwachung endete, was bei der Nutzung einer Signale aussendenden Sonde der Fall wäre. Dennoch wollen die Ermittler nicht sicher angeben können, wo genau sich Coupat und Lévy gegen 4 Uhr morgens in der Nacht aufhielten, als die Hakenkrallen gelegt wurden. Man habe sie für Viertel- und halbe Stunden aus den Augen verloren. Angeblich hatten sie sich einem der Orte des Anschlags auf die Bahnlinien, rund 75 Kilometer östlich von Paris, genähert.
Doch Ende Oktober berichtete Le Canard enchaîné, die Ermittler hätten kurz zuvor »gemerkt«, dass Lévys Bankkarte um kurz vor drei Uhr in jener Nacht benutzt worden war, um Geld an einem Automaten im Pariser Viertel Pigalle abzuheben. Sollte dies stimmen und die Karte nicht von einem Dritten benutzt worden sein, könnten Coupat und Lévy quasi unmöglich eine Stunde später dort gewesen sein, wo die fragliche Hakenkralle gelegt wurde.
Die letzte Runde der Enthüllungen unterstreicht erneut die Bedeutung, die die fragwürdigen Berichte eines britischen Spitzels beim Anrollen der Affäre spielten. Le Monde berichtete am 6. November ausführlich über die Rolle des britischen Polizisten und Undercover-Ermittlers Mark Kennedy. Er war im Oktober 2010 in England von Umweltschützern enttarnt worden, was der Guardian aufgriff. Ein Urteil gegen 20 britische Klimaschützer wurde wegen Kennedys Rolle bei der Besetzung des Kohlekraftwerks in Ratcliffe-on-Soar aufgehoben. Kennedy habe wohl als Agent provocateur gehandelt, befanden die britischen Richter.
In Frankreich war seine Rolle erstmals im Februar 2011 im Wochenmagazin L’Express thematisiert worden. Anfang dieses Jahres tauchte er in einem Buch auf, das der Journalist Daniel Dufresne der Tarnac-Affäre widmete und für dessen Recherchen er sich sowohl mit den »Terrorverdächtigen« als auch mit Polizisten und Nachrichtendienstmitarbeitern getroffen hatte. Dufresne ist der Ansicht, die Affäre sei Gegenstand einer politisch-ideologischen Verblendung, die einerseits mit der Rolle der damaligen Innenministerin Michèle Alliot-Marie – die felsenfest an einen bevorstehenden »großen linksterroristischen Anschlag auf französischem Boden« glaubte – und ihrer fragwürdigen Berater zusammenhänge; andererseits mit der Fusion von polizeilichen Nachrichtendiensten und DST zur neuen Inlands-Geheimdienstzentrale DCRI, die im Juni 2008 abgeschlossen worden war. Konkurrierende Abteilungen hätten sich dabei ausstechen wollen, gleichzeitig habe der neue Dienst versucht, unbedingt spektakuläre erste Arbeitsergebnisse zu produzieren.

Das Material für diese Thesen lieferte unter anderem Kennedy. Er war von 2003 bis 2009 als ­Undercover-Agent in mehr als 20 europäischen Ländern aktiv. Dabei infiltrierte er die Ökologiebewegung, Atomkraftgegner, Globalisierungskritikerinnen und Anarchisten. Er unterhielt Liebes- und sexuelle Beziehungen zu Aktivistinnen, was seine Rolle als verdeckt ermittelnder Polizist noch kritikwürdiger macht, zumindest in Deutschland sind taktische Beziehungen dieser Art unzulässig. Die von ihm gelieferten Informationen wurden teils von der britischen Polizei und teils von den kooperierenden Staaten, in denen er eingesetzt war, ausgewertet. In Deutschland hielt er sich nach vorliegenden Berichten von 2004 bis 2009 insgesamt fünf Mal auf. Er drang in die antifaschistische Szene vor und stand bei drei Bundesländern unter Vertrag.
Die »Tarnac-Gruppe« lernte er bei einem Vorbereitungstreffen für die Aktionen gegen den G20-Gipfel in Heiligendamm vom Juni 2007 kennen, das im Februar desselben Jahres in Warschau stattfand. Die fünf aus Zentralfrankreich Angereisten schlugen dort vor, man solle nicht in Heiligendamm protestieren – wo die Polizeipräsenz immens war –, sondern überraschend in Hamburg oder Berlin. Später besuchte Kennedy die Bewohner der Landkommune in Tarnac. Im Februar 2008 behauptete er gegenüber französischen Nachrichtendienstlern, bei einem Gespräch mit Mitgliedern der Gruppe in Nancy sei »über den Einsatz von Explosivstoffen diskutiert und auch mit ihnen experimentiert worden«. Daran glaubt heute niemand. Aber die polizeilichen Nachrichtendienste wurden damals auf die Gruppe aufmerksam. Seit dem 25. März funktionierte das Kreditkarten-Lesegerät im Laden der Landkommune nicht mehr; Anfang April fand daraufhin ein Techniker der Telekom heraus, dass ein unprofessionell wirkendes Abhörgerät in dem Gebäude installiert war. Die Überwachung war damals noch illegal, aber am 16. April 2008 wurde ein Vorermittlungsverfahren wegen Terrorismusverdachts gegen die Gruppe eingeleitet, die darüber nicht unterrichtet wurde. Kennedy hatte offenbar versucht, durch wilde Geschichten über seine »Zielobjekte« die Bedeutung seiner Tätigkeit hervorzuheben.
Inzwischen hat das politische Interesse an den Strafverfolgungen im Zusammenhang mit Tarnac nachgelassen. Alliot-Marie ist nicht mehr Innenministerin, sie musste bereits Anfang 2011 gehen, nachdem sie vorgeschlagen hatte, Tunesiens Diktatur Polizeihilfe zu gewähren. Der amtierende Präsident François Hollande, dessen Wahlkreis in der Nähe von Tarnac liegt, äußerte vor seiner Wahl – spät, aber deutlich – Vorbehalte gegen das Verfahren. Die Frage für den französischen Staat ist nun, wie er diese brisante Affäre ohne Gesichtsverlust beenden kann.
Doch in diesen Tagen warnte der französische Innenminister Manuel Valls im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen einen umstrittenen Flughafenneubau bei Nantes erneut vor einer ­»anarcho-autonomen Gefahr«. Der Journalist Du­fresne kommentiert, an diesem Punkt herrsche eben doch Kontinuität.