Olivier Roy im Gespräch über islamistische Radikalisierung in Frankreich

»Jihadisten sind Narzissten«

Anfang November kamen Frankreichs Präsident François Hollande und der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu in Toulouse zusammen, um der Opfer des Anschlags auf eine jüdische Schule in der südfranzösischen Stadt zu gedenken. Im März ermordete Mohamed Merah dort drei Kinder und einen Lehrer. Nur wenige Wochen vor der Trauerfeier wurde ein jüdischer Supermarkt in Paris Ziel antisemitischer Gewalt. Das salafistische Terroristennetzwerk, das einen Anschlag verübt und weitere geplant hatte, wurde kurz darauf von der Polizei enttarnt. Seitdem steht die Debatte über antisemitische Gewalt von französischen Islamisten wieder stärker im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Die Jungle World sprach mit Olivier Roy über französische Jihadisten und den Zusammenhang zwischen Vorstadtmilieu und islamistischer Radikalisierung. Roy ist Islamwissenschaftler und lehrt zurzeit am European University Institute in Florenz. Seine zahlreichen Publikationen beschäftigen sich vor allem mit dem politischen Islam.

Sind der Anschlag auf einen koscheren Supermarkt in Sarcelles und kurz darauf die Auf­deckung eines islamistischen Netzwerks Anzeichen für eine Zunahme antisemitischer Angriffe durch französische Islamisten?
Seit gut 15 Jahren, genauer seit den Anschlägen von 1995 (damals verletzte eine Explosion vor einer jüdischen Schule in Paris 14 Menschen, Anm. d. Red.), ist die Zahl der Angriffe und Straftaten mit antisemitischem Hintergrund gleichbleibend hoch. Ebenso kommt es in regelmäßigen Abständen zu Zerschlagungen terroristischer Zellen aus dem immergleichen Milieu. Übrigens ist auch die Zahl der muslimischen Konvertiten in diesem Zeitraum erheblich gestiegen. Ich würde daher sagen, zwischen 1995 und 2012 haben wir es mit einem annähernd stabilen Grad an islamisch geprägtem Radikalismus zu tun.
Ist es nicht undifferenziert, Paralellen zwischen der größeren Zahl von Konvertiten und dem Zulauf islamistischer Gruppen zu ziehen?
Ich habe damit explizit Personen gemeint, die verstärkt aus der Motivation heraus konvertieren, sich solchen Gruppen anzunähern. Die kompromisslose Gewaltbereitschaft ist etwas, das eine große Faszination auf sie ausübt. Zum anderen sehen sie sich durch das Gefühl, die »größtmög­liche Bedrohung« für die bestehende Ordnung zu sein, aufgewertet. Hinzu kommt sicherlich auch die »Nestwärme« kleiner militanter Vereinigungen, die anziehend wirkt. Das sind alles Faktoren, die besonders junge Menschen aus einem bestimmten sozialen Milieu ansprechen.
Sie vertreten die umstrittene These, der politische Islam sei als Ideologie gescheitert. Wie ist das vor diesem Hintergrund zu verstehen?
Mit dem politischen Islam meine ich die Umsetzung des Islam als Staatsideologie. Das ist klar von den Aktivitäten solcher radikalen Gruppen zu unterscheiden. Man kann dies mit dem Scheitern des Marxismus und dem Aufstieg des linken Terrorismus vergleichen. Zumindest der Mechanismus ist ähnlich: Die Brigate Rosse, die RAF und auch die Action Directe sind Bewegungen, die genau in der Periode besonders aktiv waren, als die kommunistischen Parteien eine tiefgreifende ideologische Krise erlebten.
Wir beobachten eine Radikalisierung genau in dem Moment, wo sich die große politische Ideologie in der Krise befindet. Das Scheitern des politischen Islam korrespondiert daher mit der Radikalisierung an den islamistischen Rändern und widerspricht ihr nicht.
Die islamistischen Parteien, die nach dem »arabischen Frühling« vielerorts an Macht gewinnen, sind aber keine radikalen Splittergruppen.
Aber auch diese Siege der Islamisten bestätigen meine These eines gescheiterten politischen Islam. Sie haben nicht aufgrund eines revolutionären muslimischen Programms gewonnen, sondern auf der Basis halbwegs demokratischer Wahlen. Das als Sieg des Islamismus als Staatsideologie zu bezeichnen, wäre schlicht falsch.
Zurück zu der Situation in Frankreich. Der französische Innenminister, Manuel Valls, hat über die jihadistischen Gruppen gesagt, es handele sich nicht um terroristische Netzwerke, die von außen kommen.
Da stimme ich vollkommen zu. Der politische Mainstream hat immer angenommen, dass der islamistische Terror aus dem Ausland importiert wird. Mittlerweile ist man aber darauf gekommen, dass sich diese Prozesse der Radikalisierung vor Ort vollziehen. Es ist nicht lange her, dass man sich in der französischen Öffentlichkeit dagegen ausgesprochen hat, korrektive Maßnahmen an Ort und Stelle zu ergreifen. Jetzt sind einige der damaligen Gegner solcher Maßnahmen die ersten, die öffentlich genau solche Maßnahmen fordern.
Es handelt sich bei solchen Islamisten also um Personen, die in Frankreich geboren oder französische Staatsbürger sind?
Aber natürlich. Und es ist kaum möglich, ihre Radikalisierung vorherzusehen oder gar zu unterbinden. Deshalb sind alle unsere Programme, die einen moderaten Islam bewerben, absurd, denn sie erreichen niemals die betroffenen Individuen. Diese jungen Jihadisten sind vor allem eines: Narzissten auf der Suche nach Ruhm. Sie als »schlimmste Bedrohung für den Westen« darzustellen, verleiht ihnen nur zusätzliches Selbstwertgefühl. Man sollte sie daher öffentlich als das bezeichnen was sie sind: soziale Verlierer auf der Suche nach Zugehörigkeit.
Sind die »Vorstädte« und ihre soziale Situation ein Nährboden für islamistische Gruppen?
Nein, das kann man nicht sagen. Diese Gruppen haben keinen sozialen Ursprung in der Sozialstruktur dieser Viertel. Zudem sind sie nicht im muslimischen Milieu der Vorstädte verankert. Ihre Mitglieder besuchen kaum Moscheen und sind auch nicht Teil muslimischer oder allgemein sozialer Organisationen. Vielmehr handelt es sich um sozial marginalisierte Individuen.
Sie sehen also auch keinen Zusammenhang zwischen der religiösen Zusammensetzung der Vorstädte und der Existenz islamistischer Gruppen?
Doch. Denn diese marginalisierten Personen kommen ja aus den Vorstädten. Die Vorstädte produzieren und fördern, neben vielen anderen Phänomenen, auch Prozesse der Radikalisierung bestimmter Schichten. Was ich aber hervorheben möchte, ist, dass man nicht davon sprechen kann, dass die Vorstadt als Ganzes einem solchen Prozess der Radikalisierung unterliegt. Man muss hier differenzieren. Die Vorstadt ist ein Umfeld, in dem Individuen sich durch gewaltorientierte Haltungen radikalisieren können und das auch tun. Das heißt aber nicht, dass das Phänomen quantitativ bedeutend ist. Natürlich ist diesen Islamisten eine große qualitative Relevanz beizumessen, schließlich handelt es sich um terroristische, gewaltbereite Gruppen. Quantitativ sind von dieser Art Entwicklung aber nur einige hundert Personen betroffen. Im Gegensatz dazu ­beanspruchen die meisten der muslimischen Jugendlichen aus der Vorstadt für sich weder eine ethnische noch eine religiöse Identität.
Angesichts der jüngsten Ereignisse spricht Samir Amghar, ein Experte zum Thema radika­lisierter Islam, von einem »Antisemitismus der französischen Jihadisten, der an den in den dreißiger Jahren erinnert« – eine gewagte Aussage?
Zurzeit beobachten wir eine starke Durchlässigkeit zwischen dem »traditionellen« Antisemitismus des Okzidents und dem Antisemitismus, der unter jungen Islamisten vorherrscht. Zum Beispiel das Vorurteil, dass die Juden reich seien. Das ist ein altes Motiv des abendländischen Antisemitismus und entspringt nicht der Tradition des Antijudaismus, wie er im Islam vorkommt. Aber solche Motive werden natürlich von den ­islamistischen Gruppen aufgegriffen. Sie sind ein gutes Beispiel dafür, dass eine Synthese stattfindet zwischen antisemitischen Haltungen, die so auch in der französischen Gesellschaft anzutreffen sind, und dem von islamistischen Jugendlichen praktizierten Antisemitismus.