Nacktheit macht prüde

Anziehen, anziehen!

Die Nacktheit anderer führt zwangsläufig zu eigener Prüderie. Das FKK-Verbot ist richtig.

Ich möchte keinesfalls unbekleidet mit der Tür ins Haus fallen, aber gleich vorweg: Ich kann nackten Menschen ohnehin nicht sonderlich viel abgewinnen. Auch wenn die History und die Bookmarks meines Browsers etwas anderes behaupten mögen. Das ist eine nackte Lüge!
Als Abkömmling einer polnischen Einwandererfamilie, mit westdeutscher Prägung und katholischen Vorlieben (der Familie, nicht meine), hatte ich das Glück, nicht einmal meine eigenen Eltern nackt sehen zu müssen. Ich habe die Prüderie schon mit der abgepumpten Muttermilch aufgesogen. Bereits als Fünfjähriger, so erzählt man sich, hätte ich partout darauf bestanden, in der Badewanne eine Schwimmhose zu tragen. Es dürfte also nicht überraschen, dass ich die jüngste Entscheidung der eigentlich als äußerst liberal geltenden US-Küstenstadt San Francisco, jedwede Form öffentlicher Nacktheit aus ihrem Stadtbild zu verbannen, vehement unterstütze. Aber woher kommt diese Entschiedenheit?
Nun, ich habe selbst schon einmal nackte Menschen gesehen. Um genau zu sein nicht gerade wenige. Eigentlich sogar viele. Wirklich viele. Womöglich auch den Typen hier unten, der das Contra zu dieser Debatte beigesteuert hat. Googeln Sie den mal! Oder besser noch: Googeln Sie mal mich. Sowas will man doch nicht nackt sehen!
Und es ist ja auch keineswegs so, dass es um die bildungsfernen Schichten wesentlich besser bestellt ist: Denken Sie nur an ihren Fallmanager, ihren Angestellten im Öffentlichen Dienst, ihre Fleischereifachverkäuferin. Untendrunter sind die alle nackt! Auch untenrum. Warum soll das bei denen denn großartig anders aussehen als bei Ihnen und bei mir? Na gut, anders vielleicht, aber besser?

Natürlich kommen wir alle nackt auf die Welt, das ist mir schon klar. Aber nachdem ich vor annähernd zehn Jahren in den Wedding gezogen bin, kann ich einfach nicht anders, als mich jeden Tag ein kleines bisschen mehr darüber zu freuen, dass die Menschheit in den vergangenen zwei Millionen Jahren eine textilproduzierende Industrie hervorgebracht hat. Auch wenn es gerade in Berlin eine nicht zu leugnende Anzahl von broilerfarbenen Männern und Frauen gibt, die dieser kulturanthropologischen Entwicklung so kritisch und ablehnend gegenüberstehen wie Kreationisten den Lehren Darwins. Der Berliner an sich, ganz gleich ob west- oder ostgebürtig, lässt zu den passenden Gelegenheiten gerne einmal die Hüllen fallen. So konnte ich nach meinem Umzug in die bundesdeutsche Hauptstadt einen gewissen Kulturschock in Sachen öffentlicher Nacktheit nicht verleugnen, als ich bei einer meiner ersten Kiez­wanderungen am nahegelegenen Plötzensee im hohen Gras zwischen den Bäumen keineswegs ein Endlager alter Wildledersofas entdeckte, sondern meiner allerersten Nacktbaderkameradschaft über den Weg lief: Federball. Nackt. Im Mai. Denkt denn niemand an die Kinder?
Einem Hardcore-FKKler macht dieser gelegentliche großstädtische Nacktheitswahn keine sonderliche Konkurrenz. Wer einmal in einer brandenburgischen Freikörperkolonie verweilen durfte, nur um die Eltern, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen seiner neuen Liebschaft kennenzulernen (von der gehbehinderten Großmutter soll an dieser Stelle keine Rede sein), wird wissen, dass der Nacktbadestrand eines Berliner Badesees mit einer echten FKK-Kolonie nur sehr wenig gemeinsam hat. Dort scheint das nackte Baden allenfalls Nebensache zu sein. Weitaus wichtiger dagegen ist es, nackt zu grillen, nackt Fußball zu gucken, nackt Kniffel zu spielen, nackt Bienenstich zu essen und nackt die Familienfotos vom letzten Nackturlaub auf Rhodos anzuschauen. Ein waschechter FKKler schreckt nicht einmal vor einem nackten Toilettengang zurück!

All diese Erlebnisse haben ihre Spuren hinterlassen. Die Prüderie ist zu einem festen Bestandteil meines (ansonsten völlig neurosenfreien) Charakters geworden. Selbst heute noch empfinde ich in einem hüllenlosen Zustand ein gewisses Unbehagen. Jedes Mal kurz nach dem Beischlaf, sobald der Besuch eingeschlummert ist, ertappe ich mich selbst dabei, wie ich nochmal aus dem Bett krieche und einen Schlüpper überstreife. Auch die Masturbation findet nur in geschlossenen Räumlichkeiten und unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Sogar die Katze muss derweil draußen warten, und selbst das Schreiben dieses Textes wäre mir vermutlich leichter von der Hand gegangen, wenn ich nicht die ganze Zeit nackt dabei gewesen wäre.