Findet Kleidung reaktionär

Ausziehen, ausziehen!

Kleider verdummen Leute. Das FKK-Verbot ist reaktionär.

Nacktheit, so musste man kürzlich lesen, soll ausgerechnet in San Francisco verboten werden. Ein reaktionärer Stadtrat macht sich dafür stark. Der Grund sei angeblich »die sprunghafte Zunahme an nackten Menschen« in einem Viertel der Stadt, schreibt die Neue Zürcher Zeitung. Man weiß ja bereits, was die Nullachtfünfzehnmalklugen dazu sagen: Recht so! Hässliche bleiche und behaarte Männerbeine, die unter knappen Shorts hervorragen, oder offen zur Schau getragene Geschlechtsteile sind eine ästhetische Zumutung! Wären die Mitmenschen angemessen bekleidet, wäre die Welt ein erträglicherer Ort, blablabla. Für fortschrittliche Menschen aber klingt das, als hätten sich religiöse Fundamentalisten jeglicher Couleur mit der weltweit agierenden Textilindustrie verschworen.

Was nur wenige wissen: Fast sämtliche Bekleidung wird – wie alles im globalen Kapitalismus – unter inhumanen Bedingungen hergestellt. Um Bekleidung und ähnlichen Tand für den moralisch verkommenen Wohlstandsbürger herzustellen, werden Tiere abgeschlachtet, Menschen ausgebeutet, Baumwollfelder niedergemäht.
Kurz: Baumwolle ist Folter. Jedes arglos bei Woolworth oder H & M erworbene Sockenpaar verlängert das grausame Leiden eines von der gewissenlosen Textilienherstellungsmafia 16 Stunden täglich in einem lichtlosen Kellergewölbe eingesperrten kleinen Buben in Bangladesh oder eines Mädchens in Vietnam, das noch nie die Sonne gesehen hat, weil es seine tägliche Schale Reis mit blutverkrusteten Händchen an der auf Nonstop-Betrieb gestellten Nähmaschine verdienen muss, um qualvolle Minuten.
Doch davor verschließen die Stutzer, Gecken und Modenärrinnen ihre Augen. Einen albernen bunten Kopfputz oder ein grellfarbenes Wams zu tragen, ist ihnen wichtiger als das Schicksal eines ausgemergelten Kindes, das mit Tränen in den großen Augen zu uns aufsieht und uns dabei lautlos zu fragen scheint: »Gefällt dir dein neues Button-Down-Hemd in der Modefarbe der Saison?«
Des weiteren: Der allgegenwärtige Zwang zur Bekleidung hat auch zum Ziel, aus dem Menschen einen Untertan zu machen. Ob sogenanntes Leisure Wear (Trottelhütchen, Hipstertasche) oder Berufskleidung (Krawatte, Blaumann, Stahlhelm, Soutane): Überall walten Bekleidungsvorschriften, es ist der reine Textilienfaschismus. Helm und Uniform des Soldaten machen aus diesem einen entindividualisierten Befehlsempfänger. Der Trainingsanzug verwandelt den Sportler in eine Leistungsmaschine. Das Business-Kostüm reduziert die Bankangestellte zur grauen Funktionsträgerin der verwalteten Welt. Das bereitwillige Tragen von Kleidung macht uns zu abgestumpften Mitläufern im Kollektiv der Einverstandenen: Wo zuvor lachende Naturkinder mit aufgerichteten Gliedern oder barbusig durch Wald und über Wiesen tollten, trotten Zombies gleichgeschaltet durch Supermärkte und Fußgängerzonen. Mit Kleidung wird Politik gemacht: Nicht nur den Körper will man verhüllen, auch den freien Geist darin will man abtöten.

Dabei kann man Tag für Tag im Straßenbild der einschlägig bekannten Diktaturen beobachten, wohin der totale Bekleidungsterror am Ende führt: Fusselbärtige Faschisten, die Kopfwindeln tragen und in knöchellange Umstandskleider gewandet sind, führen ihre in schwarze Kartoffelsäcke verpackten Ehefrauen wie Haustiere spazieren. Man möchte sie zur Seite nehmen und ihnen mit den klugen Worten der Künstlerin und Feministin Libby Jones ins Gewissen reden: »Es kommt nicht darauf an, was eine Frau anzieht, sondern wie sie es auszieht.« Die ägyptische Feministin und Bloggerin Aliaa Magda Elmahdy hat vergangenes Jahr ein Nacktfoto von sich ins Internet gestellt, um so gegen Zensur, Heuchelei und für Freiheit in der islamischen Welt zu protestieren. In Russland und der Ukraine werden Frauen, weil sie unbekleidet für Meinungsfreiheit und gegen ihre Ausbeutung protestieren, verhaftet. Und in den USA will man nun gar schon Menschen das grundlose unbekleidete Herumsitzen untersagen.
Das Ablegen der Kleidung – von den Lebensreformern des 19. Jahrhunderts bis zur sexuellen Revolution und Frauenemanzipation in den sechziger Jahren – galt als Geste des Nichteinverstandenseins, als sichtbares Zeichen dafür, sich nicht länger den Regeln einer Gesellschaft zu fügen, die uns zu jederzeit verwertbaren Kleiderpüppchen umfunktioniert. Das Entkleiden ist ein Akt der Selbstbefreiung, vergleichbar einem Galeerensklaven, der seine Ketten zerreißt: Runter mit dem Gewand, dem äußerlichen Signum der Knechtschaft, weg mit der Arbeitsuniform. Und siehe da: Unter der Polyesterverpanzerung wird plötzlich der Mensch sichtbar. Wo kein Talar mehr ist, verfliegt auch der Muff. Was verschnürt war, wird geöffnet. Was unter Kunststofffasern zu ersticken drohte, darf wieder atmen.
Die politische Libertinage hat stets unter dem Banner der Nacktheit stattgefunden.
Der Mann, den Auguste Rodin als »Denker« verewigte und der wegweisend für die Moderne wurde, kündet nicht nur von einem Zeitalter der Vernunft, der Emanzipation und des wissenschaftlichen Fortschritts. Er ist auch nackt. Die Frau, die auf dem berühmten Gemälde »La Liberté guidant le peuple« von Eugène Delacroix zu sehen ist, wie sie beherzt das Volk auf die Barrikaden führt, hat nicht nur ein Gewehr in der Hand. Sie hat auch nackte Brüste.