Ein Roman über Ulrike Meinhof

Das RAF-Puzzle

Steve Sem-Sandberg hat im Stil der Doku-Fiction einen Roman über Ulrike Meinhof geschrieben.

International bekannt geworden ist der schwedische Journalist und Autor Steve Sem-Sandberg mit seinem Roman über das nationalsozialistische Ghetto Litzmannstadt. In »Die Elenden von Łodz« rekonstruiert er, ausgehend von der überlieferten Ghettochronik, die historischen Ereignisse rund um den abgeriegelten jüdischen Stadtbezirk und konstruiert aus dem dokumentarischen Material eine Geschichte seiner Bewohner. Fakten und Fiktion verschränken sich. In der Montage von wörtlichen Zitaten aus zeitgenössischen Dokumenten und erfundenen Erzählungen von Menschen, die nicht überlebten, gelingt Sem-Sandberg, was der wissenschaftlichen Darstellung entgeht: Leiden und Sterben der Ghettobewohner werden anschaulich.
Dem Erfolg dieses Buches verdankt der Autor die Aufmerksamkeit für seine früheren Dokumentarromane. So erschien im Herbst im Klett-Cotta-Verlag erstmals in deutscher Übersetzung der bereits 1996 entstandene Roman »Theres« über die Journalistin und Mitgründerin der Roten Armee Fraktion (RAF), Ulrike Meinhof.
Diese Protagonistin stellt das literarische Genre der Doku-Fiction vor eine besondere Herausforderung. Das Spiel aus Fakten und Fiktion vervielfältigt sich bei der Darstellung ihres Lebens. Aus der Tatsache eines missglückten Banküberfalls wird in der Presse das Hirngespinst einer raffinierten terroristischen Strategie. Albträume des damaligen Präsidenten des Bundeskriminalamtes, Horst Herold, verwandeln sich in Antiterrorgesetze. Ist die »Baader-Meinhof-Bande« eine vielköpfige Hydra oder sind ihre Mitglieder »Akteure in einer verdammten Revolutionsfiktion«? Sicher scheint nur: »Die Welt, die durch Fakten beschrieben und durch Fiktion entstellt wird, ist eine Welt in ständiger Verwandlung.« Sem-Sandberg nimmt den vorgegebenen Rhy­thmus auf. Mit schnellen Szenenwechseln rast das Leben seiner Titelheldin auf den »Toten Trakt« zu. Durch die Jenaer Kindertage huscht noch der Schatten von Hegels Weltgeist, dann folgt ein großer Sprung über die Studienjahre hinweg. In der Zeit als Redakteurin bei Konkret erscheint Meinhof schon als gehetztes, in den Jahren der Illegalität als gejagtes Tier. Schließlich sitzt eine Frau im 7. Stock des Hochsicherheitstrakts in Stuttgart-Stammheim, über die die öffentliche Meinung als »letzte beschlussfassende Instanz« ihr Urteil gefällt hat: »Mehrere Geschichten werden zu einer einzigen versponnen; die Tatsache, dass die Geschichten unabhängig voneinander entstanden sind, lässt die Gesamtheit zur ›Wahrheit‹ werden.«
Sem-Sandberg misstraut jedoch nicht nur dieser »Wahrheit«, sondern auch den Möglichkeiten der Collage. Er stellt dem Wahngebilde der hysterisierten Öffentlichkeit kein aus Meinhof-Kolumnen, RAF-Dokumenten, Gerichtsakten und Abhörprotokollen verdichtetes Porträt entgegen. Stattdessen lässt er die einschlägig bekannten Zeugen ihre Wahrheit vortragen, fügt ein paar »phantastische Fakten« hinzu und überlässt die Entscheidung dem Lesepublikum: »Wahr oder falsch. Bitte ankreuzen.« Diese ästhetische Hilfskonstruktion misslingt. Fettgedruckte Materialschnipsel, dünne Assoziationsfäden und kursive Mutmaßungen ergeben ein enervierendes Schriftbild und eine langweilige Kolportage. Der Autor präsentiert ein Rasterbild aus alten Klischees: Meinhof als frustrierte Ehefrau, verwöhnte Salonkommunistin, hochbegabte Journalistin und irre gewordene Staatsfeindin. Er nennt sie Theres, weil sie von Gudrun Ensslin, der »Krakeelerin«, so genannt worden sein soll. Spekulationen über den Namen fügen sich in das hypothetische Psychogramm. In Analogie zur katholischen Ordensgründerin Teresa von Avila lässt sich Meinhof wahlweise als Fanatikerin diffamieren oder als Heilige verklären.
Deutlich erkennbar bezieht Sem-Sandberg seine Fakten aus Stefan Austs »Baader-Meinhof-Komplex«. Ähnlich wie Aust verzichtet er nicht auf einige angestaubte voyeuristische Andeutungen. Spannungsmomente enthält Austs Buch keine mehr, dafür ist es mindestens 20 Jahre zu alt. Der »schwere Tränengasnebel«, den der Autor anlässlich Baaders Befreiung gerne im Raum sähe, »fände das im Fernsehen statt«, ist inzwischen durch die Kinos gewabert. Im Film verwandelten sich die RAF-Mitglieder in entpolitisierte Actionhelden.
»Bewegung: Alles andere ist Schmerz.« Das Meinhof-Zitat ist »Theres« als Motto vorangestellt und durchzieht leitmotivisch die Textcollage. Doch erkennt Sem-Sandberg immer nur subjektive Ursachen für die Handlungen, die ständige Bewegung gilt ihm als »kurzzeitiges Heilmittel gegen Depressionen«. Konsequent ignoriert der Autor die historischen und politischen Motive von Meinhofs Denken und Handeln. Auch eine kurze Erinnerung an ihren Dokumentarfilm »Bambule«, der die autoritären Verhältnisse in deutschen Kinder- und Jugendheimen anprangert, dient letztlich nur der Verunglimpfung von Meinhofs eigenen Erziehungsmethoden. Nirgends reflektiert Sem-Sandberg die postnazistischen Verhältnisse in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, die die Dynamik des Widerstands in Gang gesetzt haben. Dass für Sem-Sandberg die Auseinandersetzung mit der natio­nalsozialistischen Vergangenheit bedeutungslos bleibt, ist befremdlich, zumal sich mit seiner Montagetechnik die Widersprüche von Meinhofs Vergangenheitsbewältigung hätten darstellen lassen.
»Theres« ist ein Roman für vermeintlich liberale Bildungsbürger, die gerne alte Platten auflegen und über die Frage sinnieren, wie es dazu kam, dass eine so kluge Frau sich für den bewaffneten Kampf entscheiden konnte. Größer als das Bemühen um eine Antwort dürfte jedoch ihre Anstrengung sein, mit der eigenen Enttäuschung fertig zu werden. Weil sich Meinhof nicht mit dem Schreiben sozialkritischer Reportagen begnügte, entgeht ihnen die Möglichkeit, ihr noch nachträglich einen Preis für Zivilcourage zu verleihen.

Steve Sem-Sandberg: Theres. Klett-Cotta-Verlag,
Stuttgart 2012, 391 Seiten, 22,95 Euro