Die Comics der französischen Gruppe OuBaPo

Ein Blumenstrauß von Zwängen

Die französische Gruppe OuBaPo, eine Vereinigung avantgardistischer Comic-Zeichner, erkundet in ihren Werken, wie aus selbstauf­erlegten Regeln neue Freiheiten entstehen.

In seiner neuen Comic-Reihe versetzt Charles Burns den Protagonisten Doug in ein düsteres Setting, angesiedelt irgendwo zwischen Traum, Wahn und Wirklichkeit. Immer wieder zitiert er Hergés »Les Aventures de Tintin« (»Tim und Struppi«) und schafft so eine Albtraumversion der geordneten Welt der ligne claire, des klassischen, klaren Stils der frankobelgischen Comic-Tradition. Was bei Burns als Zitat, als ironischer Kommentar zum Zusammenbruch der Ordnung im Leben Dougs fungiert, wird von einer vor genau 20 Jahren in Paris gegründeten Gruppe avantgardistischer Comic-Zeichner, die sich OuBaPo (Ouvroir de Bande Dessinée Potentielle, auf Deutsch etwa: »Werkstatt für potentielle Comics«) nennt, strategisch eingesetzt: Immer wieder greifen sie Hergés »Tim und Struppi«-Serie auf, zerschneiden sie und setzen sie neu zusammen, ersetzen Bild oder Text und gelangen durch das Spiel mit dem vorhandenen Material zu einer Reflexion über dessen impliziten politischen Gehalt. Ihr experimentelles Verfahren erschöpft sich jedoch nicht im Umgang mit Hergé und auch nicht in der Verwendung des reichhaltigen Materials der mehr als hundertjährigen Geschichte des Comic; darüber hinaus erkunden sie in ästhetischen Experimenten die Formen und Grenzen der Gattung.
Dieser spielerische Umgang mit dem Comic hat in Frankreich selbst Tradition. Schon die Situationisten haben sich Comics angeeignet und mit neuen Texten versehene klassische Comicstrips als ästhetisches Medium ihrer Gesellschaftskritik verstanden. »Uns kommt es darauf an, die theoretische Kritik an der modernen Gesellschaft mit der handelnden Kritik an dieser Gesellschaft zu verbinden«, heißt es in einem von René Viénet verfassten situationistischen Pamphlet für die »Einführung der Guerilla in den Massenmedien«.
Ganz so revolutionär geht es bei OuBaPo nicht zu, zumindest nicht auf gesellschaftlicher Ebene. Im Kontext der Gattung versuchen die Zeichner aber durchaus, die Vorstellung dessen, was ein Comic ist, zu zerschlagen und das Experiment, das Spiel mit dem Material und die Normabweichung in den Mittelpunkt zu stellen, den Comic also »an manche seiner Grenzen zu treiben«, wie Thierry Groensteen in einem Gründungstext schreibt.
Dabei versteht die Gruppe sich, worauf ihr Name hinweist, als Teil der Geschichte der französischen Avantgarde. Anfang der sechziger Jahre gründeten der Schachtheoretiker und Mathematiker François Le Lionnais und der Dichter Raymond Queneau die literarische Gruppe OuLiPo (L’Ouvroir de Littérature Potentielle), die sich die Erforschung der Grenzen und die Erweiterung des traditionellen Verständnisses von Literatur zum Ziel gesetzt hatte. Zu diesem Zweck wurden dem Schreiben paradoxerweise neue Zwänge – »contraintes« – auferlegt, etwa der von Georges Perec erprobte Zwang, einen Roman ohne den Buchstaben »e« zu schreiben, oder mathematische Regeln auf die Literatur zu übertragen. Jedes Schreiben gehorche bestimmten Regeln, so die Oulipisten. Das bewusste Einhalten von festgelegten Zwängen wird als Befreiung von unbewussten Zwängen betrachtet. Ausgehend von der Sprache, werden in systematischen Experimenten die hinter der Sprache liegenden Strukturen analysiert, um deutlich zu machen, was die Wahrnehmung konditioniert.
Einen ähnlich analysierenden Blick auf die Bilder fordert OuBaPo ein. Analog zur Literatur will OuBaPo die Sensibilität im Umgang mit Bildern, mit dem Verhältnis von Text und Bild sowie mit der Geschichte des Mediums Comic schärfen. Die Initiatoren von OuBaPo – François Ayroles, Anne Baraou, Gilles Ciment, Thierry Groensteen, Patrice Killoffer, Étienne Lécroart, Marc-Antoine Mathieu, Jean-Christophe Menu und Lewis Trondheim – entstammen dem Umfeld des im Mai 1990 gegründeten Pariser Comic-Verlags »L’Association (à la Pulpe)«. Dieser war mit dem Ziel angetreten, die starren Strukturen der Comic-Verlage in Frankreich aufzubrechen und statt ästhetischer Glätte und Marktkompatibilität politische Themen (z. B. mit Marjane Satrapis »Persepolis« und den Arbeiten des südafrikanischen »Bitterkomix«-Kollektivs) sowie verstörende ästhetische Experimente in den Mittelpunkt zu stellen. Neben den unter dem Label OuBaPo firmierenden Arbeiten folgen zahllose andere Veröffentlichungen des Verlags diesem Konzept.
Die Gründungsmitglieder von »L’Association« kommen aus der unabhängigen französischen Comic-Szene und haben in unterschiedlichen Konstellationen Comic-Fanzines und selbstverlegte Comics veröffentlicht, bevor sie sich 1990 zusammenfanden, um der vorherrschenden Ästhetik des frankobelgischen Comic ihr Kunstverständnis entgegenzusetzen. Besonders deutlich zum Ausdruck kam dieser Anspruch zwei Jahre später mit der Gründung von OuBaPo: Ende 1992 wurde die Gruppe von Noël Arnaud, dem Vorsitzenden von OuLiPo, als Untergruppe anerkannt. Daneben existieren Untergruppen wie OuMuPo (Ouvroir de Musique Potentielle) und OuCuiPo (Ouvroir de Cuisine Potentielle).
Innerhalb von OuLiPo haben sich zwei Tendenzen entwickelt: die synthetische und die analytische. Die synthetische Herangehensweise ist der Versuch, formale Strukturen, etwa der Mathematik, auf die Literatur zu übertragen – oder auch die gleiche Geschichte auf 99 unterschiedliche Weisen zu erzählen, wie Queneau dies in seinen berühmten »Stilübungen« 1947 bereits vor der Gründung von OuLiPo erprobt hatte, und wie es vom amerikanischen OuBaPo-Zeichner Matt Madden 60 Jahre später unter dem Titel »99 Ways to Tell a Story« auf den Comic übertragen worden ist. Die analytische Herangehensweise dagegen sucht nach experimentellen Vorläufern in der Literaturgeschichte. Beide Tendenzen können wahlweise auf neu entstehende Werke oder bereits existierende Texte angewendet werden.
In ähnlicher Weise sucht OuBaPo in der Geschichte des Comic nach Vorläufern der eigenen Formexperimente und arbeitet gleichzeitig an der Neuschaffung von formalen Einschränkungen für den Comic. Teilweise übernehmen sie diese von den Oulipisten, zumindest sofern sich deren Zwänge auf den Comic übertragen lassen, zugleich entwickeln sie jedoch auch comicspezifische Regelvorgaben.
Erst einige Jahre nach der Gründung erschien im Januar 1997 bei »L’Association« mit »OuPus 1« eine erste Darstellung der Arbeiten von OuBaPo. Die Publikation ist Manifest, theoretisches Programm und erste Beispielsammlung in einem. In seiner Einleitung versucht Thierry Groensteen, die Traditionen und Vorläufer in der Geschichte des Comic herauszuarbeiten. Dabei weist er auf die grundlegende Schwierigkeit hin, zu bestimmen, was als Experiment im Sinne von OuBaPo zu verstehen sei und was nicht. So stellt er die Frage, ob der Verzicht auf Sprache im Comic in einer ähnlichen Weise interpretiert werden könne wie George Perecs Verzicht auf den Buchstaben »e« in dessen Roman »Anton Foyls Fortgang«, was für den Comic hieße, dass alle »sprachlosen« Alben und Strips zwangsläufig als Formexperimente gelesen werden müssten. Groensteen lehnt es aufgrund der starken Traditionslinie des »lautlosen« Comic ab, allein das Fehlen von Sprache als Formexperiment zu interpretieren. Er weist auch darauf hin, dass der Comic als Medium bereits im Vorhinein unterschiedlichen Zwängen unterliege, teilweise verlegerischer Natur (»das Format, die zweckmäßige Seitenzahl, die Entscheidung für Schwarzweiß- oder Farbdruck«), teilweise künstlerischer, wie der Anordnung der Panels auf der Seite. Dagegen hat die Verteilung eines literarischen Textes auf einer Buchseite bis auf wenige Ausnahmen, etwa in der Konkreten Poesie, auf den Inhalt keinen entscheidenden Einfluss.
Die Form des Comic unterwirft diesen also bereits etlichen Zwängen und verhindert zugleich die einfache Übertragung von OuLiPo-Zwängen auf die graphische Ebene. »Comic und Sprache teilen weder das gleiche Alphabet noch die gleiche Syntax«, schreibt Groensteen. Daher haben die Vertreter des OuBaPo neben dem Versuch der Übertragung der Regeln von OuLiPo auf ihr eigenes Medium selbst spezifische Zwänge für den Comic entwickelt. Groensteen hat in »OuPus 1« unter dem Titel »Ein erster Blumenstrauß von Zwängen« einen Katalog von Spielregeln zusammengestellt, die in den Folgepublikationen von verschiedenen Zeichnern angewendet werden. Die Zwänge teilen sich in zwei Gruppen. Zum einen sind »generative Zwänge« entwickelt worden, die originale Comics hervorbringen, zum anderen »transformative Zwänge«, die Eingriffe in bereits existierende Comics vornehmen. Groensteen hat zahllose Beispiele solcher Vorgaben detailliert herausgearbeitet. Generative Zwänge bestehen meist in Einschränkungen bestimmter graphischer Elemente, des Textes und von Motiven, oder aber in Anforderungen an die Lesbarkeit, etwa, dass ein Comic von vorne wie von hinten lesbar zu sein hat. Unter dem Namen »Coquetèle« haben Anne Baraou und Vincent Sardon diesen Versuch auf die Spitze getrieben und drei Würfel entwickelt, die auf jeder ihrer Seiten ein Panel haben, das bei jedem Würfelwurf mit den anderen zusammengesetzt eine sinnvolle Geschichte ergeben muss.
Eine wichtige Kategorie der generativen Zwänge ist die ikonische Einschränkung. »Diese Einschränkung bedeutet, dass es dem Zeichner untersagt ist, ein gegebenes Element darzustellen«, schreibt Groensteen. Das Schweizer Comic-Magazin Strapazin (Jungle World 47/2012) hat dieser Einschränkung eine ganze Ausgabe gewidmet, für die die Zeichner aufgefordert wurden, unter anderem auf die Protagonisten in den Comics zu verzichten. »Der Leser soll nicht – wie in fast allen Comics – von einer handelnden Person geführt werden, die im Bild zu sehen ist und sich in Sprechblasen ausdrückt«, heißt es im Vorwort der Herausgeber.
Andere Arbeiten in »OuPus 1«, die der Kategorie der generativen Zwänge zuzuordnen sind, verknüpfen theoretische Reflexion und praktische Umsetzung, wie der Beitrag von Killoffer. Er beschreibt in einem Text die Möglichkeiten, Comics als geometrische Figuren anzulegen, und zeichnet in seiner Umsetzung unter dem Titel »VRP« zu Würfeln angeordnete Panels, aus deren Form sich mehrere Möglichkeiten der Lektürerichtung ergeben, die sich wiederum auch auf die anderen Würfel zu übertragen haben, so dass bei jedem Lesen die Geschichte von der vorherigen Lektüre abweicht. Solche Arbeiten experimentieren zwar mit dem Zufall, die Voraussetzung dafür ist jedoch eine strenge Anordnung der Panels – also das Gegenteil von Zufall. Ein Zeichner, der immer wieder nach neuen Möglichkeiten des Experiments sucht, ist Marc-Antoine Mathieu. Seine neue Arbeit »3 Sekunden« lässt den Leser 900 000 Kilometer zurücklegen – die Entfernung, die ein Lichtstrahl in den titelgebenden drei Sekunden überbrückt – und erzählt gleichzeitig einen Kriminalfall, der über eine einzige Zoombewegung abgebildet wird, ein Zoom, der durch Spiegel oder Fenster immer wieder die Richtung wechselt. Klingt sperrig, macht aber Spaß beim Lesen – wie auch viele andere Experimente von OuBaPo.
Aber OuBaPo betreibt nicht nur das Experiment um seiner selbst willen, immer wieder blitzen zwischen den Spielereien Kommentare zu anderen Themen auf, wie insbesondere die unter dem Stichwort »transformative Zwänge« entstandenen Arbeiten zeigen. Das mit diesem Begriff zusammengefasste Experimentierfeld versteht sich als eine Nachschöpfung und Neuaneignung von Comics. Die Veränderung existierender Comics kann etwa zwei Serien zusammenführen, oder ein Baustein des Comic – Text oder Bild – wird durch einen anderen ersetzt, um ihm neue Bedeutungen zu entlocken; immer jedoch ist die Auseinandersetzung mit dem Medium und auch den Klischees des Mediums Teil des Experiments. In der transformatorischen Aneignung durch die OuBaPo-Zeichner sticht Hergés »Tintin«-Serie hevor, die immer wieder aufgegriffen wird und wohl zur am häufigsten neuinterpretierten Serie gehört.
Dies ist kein Zufall: Wie keine andere europäische Comic-Reihe repräsentiert Hergés Serie »europäische Werte« und lässt die Leser über den Erscheinungszeitraum von 1929 bis in die späten siebziger Jahre hinein die Veränderungen des politischen Zeitgeistes nachvollziehen. Dies betrifft sowohl die Ästhetik des Comic wie auch die Inhalte. War die ligne claire ohnehin als europäische Abgrenzung zum amerikanischen Superhelden-Comic angelegt, spiegelt sich dieses Ressentiment gegenüber amerikanischer Kultur auch im Inhalt von »Tim und Struppi«, am auffälligsten natürlich in »Tim in Amerika«, worin das Land als gewalttätig und kulturlos gezeichnet wird. In ihrer Auseinandersetzung mit Hergé arbeiten einige OuBaPo-Zeichner gerade diese Problematik heraus, zeigen die Macht von Comic-Bildern, die von Generation zu Generation wieder und wieder gelesen werden und so das Bild, beispielsweise Amerikas, prägen. Neben solchen antiamerikanischen Ressentiments kommen in den Bearbeitungen der OuBaPo-Zeichner der koloniale Blick Hergés sowie rassistische und antisemitische Stereotype zum Vorschein.
Anhand solcher Aspekte wird deutlich, dass OuBaPo, weil es die Macht medial vermittelter Bilder untersucht, auch für ein Publikum jenseits der Comic-Szene interessant ist, die zumindest in Deutschland mit einem solchen Bruch mit herkömmlichen Formen wenig anzufangen weiß. Die ästhetische Praxis von OuBaPo stellt eine außerwissenschaftliche Form des Nachdenkens über den Comic dar, die Traditionen rekonstruiert und zugleich Kritik an Stereotypen übt. So vervielfältigen die seit 20 Jahren stattfindenden Experimente von OuBaPo nicht nur die ästhetischen Möglichkeiten des Comic, sondern tragen zur Selbstreflexion des Mediums bei, zum Nachdenken über die eigenen Bilder und die eigene Geschichte. Eine Selbstreflexion, die immer virtuos und komisch daherkommt, eben um das Potential der Gattung experimentell zu erproben.

Marc-Antoine Mathieu: 3 Sekunden. Reprodukt-Verlag, Berlin 2012, 80 Seiten, 18 Euro