Separatismus und Nationalismus in Europa

Ein Gespenst geht um: Europa

Die Idee von den Vereinigten Staaten von Europa und der nationalistische Separatismus passten nicht zufällig schon immer gut zueinander.

Als die Nationen gebildet wurden, gingen die Kapitalbewegung und die moderne Staatsidee Hand in Hand. Fabrikanten und Händler konnten sich auf den Geist verlassen, der mit Fahnen, Mythen und Männerchören »unabhängige Provinzen mit verschiedenen (…) Regierungen und Zöllen in eine Nation« drängte, wie es im »Kommunistischen Manifest« heißt. Bald werde die nationale Selbstgenügsamkeit durch »allseitige Abhängigkeit der Nationen« abgelöst. Preußen dachte nicht daran, Schaumburg-Lippe wegen seiner Schulden aus dem »Deutschen Bund« zu werfen, und Victor Hugo verkündete auf dem Pazifistenkongress, bald würden sich »die Vereinigten Staaten von Amerika und die Vereinigten Staaten von Europa die Hände reichen«. Es kam anders. Europa wurde durch die Konkurrenz der Nationen und die von Deutschland begonnenen Kriege, seinen Völkermord und Größenwahn, Europa zu »germanisieren«, erschüttert.
Die Absicht, Deutschland in den Griff zu bekommen, der neidische Blick auf die USA und der Wunsch nach Frieden führten immer wieder zu Überlegungen, Europa zu vereinen. Doch Europa hat die Gemüter nie so erwärmt wie die Nation. Heute sprengt Europas Kapital die Fesseln der Nationalstaaten, aber das vorhandene Bewusstsein klebt an der Nation oder fällt zurück in die Kleinstaaterei. Im Jugoslawien-Krieg hängten Basken kroatische Fahnen aus den Fenstern – für die ethnische Parzelle ist ihnen kein Schuss zu wenig. Man gewöhnt sich an die Auflösung von Nationen. Die Tschechoslowakei zerfiel in zwei, die Sowjetunion in 15, Jugoslawien in sechs Staaten. Sezessionskandidaten sind Spanien, Großbritannien und Belgien. Die »Nation« stand einst für das Zusammenfügen von Duodezstaaten, heute steht der Wunsch nach der eigenen Nation für die Auflösung des Staates.

Vereinigte Staaten
Selten war der Europa-Gedanke frei von Kultur­chauvinismus, Antiamerikanismus und dem Verlangen nach einem Imperium. 1922 begann der Humanist Richard Coudenhove-Kalergi für die Paneuropa-Union als Bollwerk gegen »Panamerika« und andere Weltmächte zu werben, sonst drohe Europa das Schicksal einer »amerikanischen Wirtschaftskolonie«. Die eigenen Kolonien und Mandate sollten nicht in die Selbständigkeit entlassen, sondern gemeinsam bewirtschaftet werden. Frieden und Humanismus waren demzufolge für Europäer reserviert. Dafür erhielt Kalergi 1950 den ersten Karlspreis der Stadt Aachen, benannt nach Karl dem Großen, dem Sachsenschlächter und (nach Aussage der Ordensverleiher) »ersten Einiger Europas«.
1923 hob Leo Trotzki die linke Variante der Vereinigten Staaten von Europa in antiamerikanischer Absicht aus der Taufe. Die Kommunisten sollten »unseren Kontinent« vor der »Zersetzung und Unterjochung« durch die USA »retten«, die »das europäische Erbe« antreten wollten. Beiläufig werde die Losung »die werktätigen Massen auf den revolutionären Weg« bringen. Der antiamerikanische Euro-Imperialismus ist zweifellos kein revolutionäres Projekt, aber aktuell. Peter Sloterdijk sieht die Weltkultur nicht in den USA, dafür aber »in Frankreich und Deutschland ehrenvoll vertreten«, Jürgen Habermas und Jacques Derrida beschwören die »Wiedergeburt Europas«, weil »die moralische Autorität Amerikas in Trümmern« liege.
Seit der Cognac-Produzent Jean Monnet (Karlspreis 1953) in den fünfziger Jahren die Gründung der Europäischen Union initiierte, ging es vorrangig um stabile Verhältnisse für die Entfesselung der Produktivkräfte. Man pries den Frieden, während jeder Schritt von der Montan-Union bis zum Euro die Konkurrenz der Nationen verschärfte. Durch die Beseitigung der Handelsschranken und den gemeinsamen Euro büßen Staaten die Ins­trumente zur Abfederung von Wettbewerbsnachteilen ein. Die Konkurrenz wird nur über die Produktivität ausgetragen, Beschäftigung, Mehrwert und Kapital fließen ins produktivere Zentrum und Deutschland steigt unvermeidlich zum Hegemon auf. Nach »McKinsey« gewinnt Deutschland nur durch den Euro 165 Milliarden im Jahr. Dagegen würde der vom IWF geforderte fünfzigprozentige Schuldenerlass für Griechenland Deutschland nur 20 Milliarden kosten. Die ausgezehrten Staaten können die Entwicklung nur umkehren unter Bedingungen, die auch erfolgreiche Nachindus­trialisierungen ermöglicht haben: eigene Währung und Teilabschottung vom Weltmarkt – in Europa vor allem von Deutschland. Vielleicht hilft China, das Griechenland durch den Kauf von Hafenanlagen, Airports und Schienenstrecken zu seiner Euro-Dependenz ausbaut.

Heimatsproch
Das expansive europäische Kapital benötigt ein supranationales Staatsgebilde, das seine Interessen gegen die USA, China und andere aufkommende Industriemächte bündeln und seine anschwellenden Investitionen in Asien, die Routen und Rohstoffbasen sichern kann, inklusive eines Euro-Chauvinismus für Abwehrschlachten. China hat mit einer Kampagne die Nachfrage nach japanischen Autos im Land halbiert. Die aufstrebenden Mächte stellen für die stagnierenden Altkapitale der USA, Europas und Japans sowohl eine Markterweiterung als auch eine Bedrohung dar. Die USA etwa nutzen China als Markt, Warenlieferant und Finanzier, schicken aber gleichzeitig Flugzeugträger nach Asien und schmieden einen antichinesischen Asien-Pakt. Doch statt sich der Hypernation zu nähern, droht Europa zu zerfallen.
Heute arbeiten über 30 Regionalparteien, die in der Europäischen Freien Allianz (EFA) organisiert sind, an der Zerlegung der Nationen. Darunter baskische, katalanische, schottische, die »Lega Nord« (Beobachterstatus), »Unser Land« aus dem Elsass, das »Heimatsproch un Tradition« fördert, die »Süd-Tiroler Freiheit« (Erster Preis ihrer Lotterie ist die Fahne »Süd-Tirol ist nicht Italien«), die »Bayernpartei«, die ein »freies Bayern« will, statt »gigantische Summen« nach Berlin zu überweisen, und »Die Friesen«, die in Niedersachsen neue Grenzen ziehen wollen, weil ihre Identität sich »erheblich vom Gemeindeutschen unterscheidet«, »Volkskreise, die alle ihre eigenen Sorgen und Nöte haben«, nicht im Parlament säßen, und weil »die größten Erdgasfelder Westeuropas heute friesischer Besitz« seien, »ebenso wie zahlreiche Ölvorkommen in der Nordsee«.
Friesen sind kein Volkskreis, sondern Arbeitslose, Leiharbeiter, Bierbrauer, Windkraft-Kapitalisten, reich und arm, weil ein Friese den anderen ausbeutet. Nicht einmal die Gier nach Rohstoffen ist typisch friesisch. Die Wurzeln des Separatismus sind völkische und ethnokultige Gesinnungen, der Reichtumsnationalismus und die in Krisen zu beobachtende Flucht in den Heimathafen. Da ist aber noch etwas. Seit Jahren manipuliert die Antiglobalisierungsbewegung den Verstand. Sie schreibt Kriege, Eroberungen, Krisen nicht dem Kapitalismus und dem Mehrwertraub der Nationen zu, sondern einer ominösen Globalisierung, den vagabundierenden Finanzen und einer neoliberalen Willkür, schlägt Protestcamps nur vor Banken und Börsen auf, die für das antisemitisch konnotierte »raffende« Kapital stehen, statt da, wo Menschen für den Mehrwert ausgebeutet werden. Mit der Klage »Durch Finanzcrashs werden Bemühungen ganzer Volkswirtschaften zunichte gemacht« offenbart Attac seine Empathie für das »schaffende« nationale Kapital. Als gut erscheint dann zwangsläufig alles Antiglobale, Nationale und Ethnische, das vor amerikanischem »Kulturimperialismus« zu behüten sei, das »Europa der Regionen«, das die Botschaft des Heimatfilms »Heidi« perpetuiert: Großstadtluft macht böse, Bergluft macht gute Menschen – Pädophilie, Inzucht und Sippenhaft werden nicht untersucht.
Populär ist das an Leopold Kohrs Philosophie (»die zu große Größe ist das Problem der menschlichen Existenz«) angelehnte »Eurotopia« des 2002 verstorbenen Bierbrauers Alfred Heineken: ein Flickenteppich von 75 Staaten, sortiert nach »ethnischen Verbreitungsgebieten«, um »landsmannschaftliche Verbindungen nicht zu stören«. Polen wird gefünfteilt. Da das Kapital nicht zerstückelt wird, liefe die Moldawisierung Europas auf die totale Kapitalherrschaft und neue Armenhäuser hinaus. Das autonome Bayern würde keinen Ludwig-Taler an Mecklenburg zahlen. Auch der Frieden wäre nicht sicherer, würde man 75 Nationen in die Konkurrenz werfen. Jugoslawien hat gezeigt, dass die Auflösung der Nation mehr nationalistischen Sprengstoff enthalten kann als sie selbst.

Götterdämmerung und Erlösung
Europa steht für ökonomische Stagnation, Fäulnis und Zerfall, faschistische Trupps und antideutsche Stimmung, weil Deutschland als Geldeintreiber über Leichen geht, Staaten die Souveränität nimmt und den Eindruck erweckt, dass es »nach zwei misslungenen militärischen Versuchen die Währung nutzen könnte, um Europa zu beherrschen« (Süddeutsche Zeitung). Die um ihren Absatz bangenden deutschen Kapitalverbände appellierten an den Bundestag: »Retten Sie den Euro!« Die Weltwirtschaft verlange »gerade jetzt, Europa entschlossen nach vorn zu tragen« – mit Gemeinschaftshaftung. »Berlin muss sich daran gewöhnen, dass eine Nation, die mit einem Hundertstel der Weltbevölkerung ein Zwanzigstel der globalen Wirtschaftsleistung erbringt, internationale Verantwortung und deren Kosten übernehmen muss (…). Wer von der Welt lebt, der muss für diese Welt auch manche Bürde tragen« (Bundesverband der Deutschen Industrie).
Daraufhin ging Angela Merkel auf Goodwill-Tour durch Europa und Wolfgang Schäuble (Karlspreis 2012) will den Niedrigzins an Athen weiter­geben. Auch der Geist, der nach Weltgeltung strebt, brach auf. Voran Daniel Cohn-Bendit: »Europa wankt!« Bald werde »kein europäischer Staat mehr Mitglied der G8 sein«, Deutschland »nur 60 Millionen Menschen« und »keine Bedeutung mehr haben«. Rettung verspreche »ein postnationales Europa mit einer europäischen Armee, die in der Lage ist, in den jetzigen Konflikten zu intervenieren«. (Wie leben Dänen nur ohne G8?) Habermas und Freunde mahnten: »Der Verzicht auf die europäische Einigung wäre ein Abschied von der Weltgeschichte.« Pro-Europäer sind oft Europäer aus Not, verkappte Nationalisten, die ihre Weltmachtphantasie auf Europa projizieren.

Linkes Europa?
»Europa« wäre kein postnationales Projekt, sondern eine Supernation, die es mit der Welt aufnehmen soll. Lenin schrieb 1915, die »Vereinigten Staaten von Europa« wären »unter kapitalistischen Verhältnissen« nur ein »Abkommen der europäischen Kapitalisten«, um den Sozialismus zu unterdrücken, Einflussgebiete zu verteidigen und »die Ausraubung« der »Erdbewohner« zu organisieren. Im Kommunismus wäre die Frage obsolet, weil er »zum endgültigen Verschwinden eines jeden Staates« führte. Wenn man die Sowjet­union nicht mit Kommunismus verwechselt, stimmt das ungefähr.
Das linke Europa gibt es genauso wenig wie das linke Vaterland. Warum sollte der linke Internationalismus, der das Ausplündern der Welt im Namen der europäischen »Kultur« und »Weltmacht« beenden, die Ausbeutung des Menschen durch die Enteignung der Produktionsmittel aufheben und eine Rätedemokratie oder Vergleichbares einrichten will, Grenzen ziehen, die hinter der Handelsfreiheit des Kapitals zurückfielen? Aber so, wie sich Europa entwickelt, wäre man froh, wenn Aufstände und Streiks den Wertraub der Zentren sowie den Aufstieg der Nationalisten, Ethno-Fanatiker, Faschisten und Rassisten beenden und die Entwicklung zu solidarischen Gesellschaften mit verlässlichen sozialen Standards und offenen Grenzen einleiten würden.