Ein Film über die chilenische Sängerin Violeta Parra

Rote Lieder aus Chile

Die Sängerin Violeta Parra ist eine Ikone der lateinamerikanischen Linken. Jetzt gibt es einen Film über sie.

An den Plakatständen in Santiago de Chile gibt es von ihr fast so viele Motive wie von Che, mehr oder weniger gelungene Porträtzeichnungen inklusive Liedtexten. In Unterführungen spielen Straßenmusikerinnen und -musiker auf dem Akkordeon oder der Gitarre von ihr komponierte Lieder. Violeta Parra ist fast einhundert Jahre nach ihrer Geburt und trotz aller Versuche der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet, sie vergessen zu machen, im heutigen Chile bekannt. Ein Museum ist im Bau, in dem Skulpturen, Wandteppiche und Ölbilder von ihr ausgestellt werden sollen. Denn die 1917 geborene Violeta Parra war zwar vor allem Sängerin und Komponistin, hat aber seit 1958 als Autodidaktin mit vielen Materialien gearbeitet.
Von chilenischen Linken und Liedermachern in Lateinamerika wird sie bis heute verehrt. Ihre Tochter Isabel leitet die nach dem Ende der Diktatur 1991 gegründete Stiftung Violeta Parra, ihr Sohn Ángel hat eines von mehreren Büchern über sie geschrieben: »Violeta se fue a los cielos« – Violeta ist in den Himmel gegangen. Auf dieser Biographie des 1943 geborenen Sohnes basiert der gleichnamige Spielfilm, der voriges Jahr in Chile in die Kinos kam und jetzt unter dem Titel »Violeta Parra« hierzulande anläuft.
Aufgewachsen ist die Sängerin mit sieben Geschwistern in Südchile als Tochter eines Dorfschullehrers und einer Näherin. Das Geld war knapp, oft gab es noch nicht einmal genug Brot, damit alle satt werden konnten, wie eine alte Nachbarin von damals in dem Dokumentarfilm »Violeta chilensis« erzählt, den Luis Vera 2008 für die Stiftung gedreht hat. Die südchilenische Kleinstadt San Carlos wirbt auf ihrem Ortschild damit, dass sie »die Wiege von Violeta Parra« sei. Eines der typischen spartanischen, einstöckigen Häuser in der dortigen Calle El Roble wurde zum Nationalheiligtum erklärt, weil Parra hier angeblich geboren wurde. Ihre Familie gibt jedoch einen anderen Geburtsort an – sicher ist, dass sie in einer dieser Siedlungen mit barackenähnlichen Häusern aufgewachsen ist, wo die Straßen staubig sind und die Armut groß.
Der Vater spielte gern und viel Gitarre und brachte Violeta mit neun Jahren das Spielen bei. Sie spielte Gitarre auf der Straße, in Bars, in Bussen, zusammen mit ihren Geschwistern, um etwas Geld zu verdienen. Als sie 13 war, starb der schwerkranke Vater. Die Mutter konnte als Näherin nicht viel verdienen, als Geschwister Parra traten Violeta und ihre Schwester Hilda mit konventionellen Folkloreliedern auf.
Violeta Parra heiratete mit 21 den Eisenbahnarbeiter Luis Cereceda. Beide traten zusammen auf, engagierten sich gemeinsam für die Kommunistische Partei Chiles und unterstützten diese mit Wahlkampfauftritten. Es war die Zeit des ersten Volksfrontbündnisses in Chile, das 1946 zum zweiten Mal die Präsidentschaftswahlen gewann. Die Arbeiterbewegung war stark, aber der Machterhaltungswille der Bourgeoisie und Oligarchie stärker: 1948 wurde die KP verboten, erst neun Jahre später wieder legalisiert. Die starken sozialen Gegensätze hatten bereits während der Weltwirtschaftskrise 1932 zu einem Aufstand und zur Ausrufung einer »sozialistischen Republik« geführt.
Gleichzeitig herrschten noch patriarchale Geschlechterrollen vor. Parra war zweifache Mutter, wollte aber nicht alleine den Haushalt führen, sondern auch singen und komponieren. Die Ehe zerbrach, mit 32 heiratete sie erneut und bekam zwei weitere Kinder. Sie begann, mündlich überlieferte Lieder der Landbevölkerung zu sammeln und aufzunehmen. Parra ging mit Aufnahmegerät und Notizheften durch die Dörfer und ließ sich die Texte über den Alltag vorsingen. Im Laufe der Jahre sammelte sie über 3 000 Lieder.
Parra konnte bald im Radio auftreten und wurde immer bekannter. Als sie zu einem Liederfestival nach Warschau eingeladen wurde, nahm sie die Einladung an. Sie fuhr alleine, nutzte die Gelegenheit, ein erstes Mal durch die Sowjetunion zu reisen, und blieb anschließend lange in Paris. Dort erfuhr sie vom Tod ihrer jüngsten, zweijährigen Tochter Rosita Clara. Für Isabel und Ángel Parra muss es eine traumatische Erfahrung gewesen sein – der Vater bürdete ihnen in Abwesenheit von Violeta Parra die ganze Verantwortung für die kleine Schwester auf. In dem Lied »Verso por una niña muerta« wirft sie voller Schmerz und ohne Gnade sich selbst den Tod ihrer jüngsten Tochter vor. Und arbeitet weiter.
Meri Lao, in Paris lebende Schriftstellerin aus Uruguay, beschreibt sie als streng, archaisch, undiplomatisch. Viele im Exil an der Seine lebende Latinos beeindruckt Parra mit ihrer Direktheit, ihrem Ernst, ihrem Gesang. Wenn sie singt, klingt das, als ob jemand seine Kinder herein ruft: mit Druck in der Stimme. Nicht schön, aber klar und durchdringend. Violeta Parra singt immer noch so, wie es wohl in ihrer frühen Jugend nötig war: so, als ob sie etwas übertönen müsste. Dabei hält sie Rhythmen und Melodien auch ohne instrumentale Begleitung. Oder sie singt zur Trommel, zur Gitarre oder einer einzelnen Charango. Die Lieder bekommen dadurch eine Eindringlichkeit, die die ernsten, sozialkritischen Texte unterstreicht. Sozialromantik liegt ihr fern, die Nüchternheit ihrer Metaphern ist manchmal nur schwer auszuhalten. Auf dem Höhepunkt der Chile-Solidarität der westdeutschen Linken 1974 veröffentlichte das der DKP nahestehende Label »Pläne« die LP »Santiago, penando estas« – Santiago, Du leidest. Im gleichnamigen Lied thematisierte sie Jahre vor dem Putsch die Gewalt des chilenischen Militärs und der Herrschenden. Es graut sie vor einem Kind, das sein Spielzeug gegen ein Gewehr eintauscht.
Das bekannteste Lied von Violeta Parra ist »Gracias a la vida« – Dank an das Leben. Viele haben es nachgesungen, die Argentinierin Mercedes Sosa hat es bei jedem ihrer Konzerte aufgeführt. Auch in deutschen Kirchenkreisen ist es beliebt und wird dort gerne zum sinnentleerten Sich-engagiert-Fühlen missbraucht. Denn Violetas Religionskritik wird ignoriert. Geschrieben hat sie »Gracias a la vida« ein Jahr bevor sie sich am 4. Februar 1967 erschossen hat, erschienen ist es auf der LP »Letzte Kompositionen«. Einige sagen, die Melodie und der Text des Liedes würden zeigen, dass Parra depressiv gewesen sei. Vielleicht. Vielleicht war sie auch einfach des ewigen Kämpfens müde. Gerade als Frau, die neben ihrem politischen und kulturellen Kampf auch immer noch für Haushalt und Kinder die Hauptverantwortung trug. Depressiv sind ihre Texte nicht. Aber Parra hat an den gesellschaft­lichen Verhältnissen gelitten. Abstrakt, konkret, persönlich. Wie auch nicht.
»Zurückgehen auf 17« ist ein anderes Lied auf ihrer letzten Platte. Es wird gerne so verstanden, dass sie wieder 17 Jahre alt sein wollte. Dies erscheint merkwürdig: War sie doch mit 17 im tiefsten Elend, ihr Vater gestorben, das Geld vom Singen reichte gerade zum Überleben. Mit der Rückkehr zur 17 könnte auch die Rückkehr zum Jahr der Oktoberrevolution gemeint sein, in dem Violeta Parra geboren wurde. So gelesen vermittelt der Text eine emphatische, aber auch von Desillusionierung geprägte Sicht auf die nachrevolutionäre Sowjetunion. Der uruguayische Liedermacher Daniel Viglietti sagte über sie: In ihren Liedern komme nie das Wort Revolution vor, aber es seien revolutionäre Lieder. Durch die Darstellung der sozialen Realität im Kapitalismus und das Aufbegehren gegen sie, durch das Aufgreifen der mündlich überlieferten Gebrauchsmusik der Armen. Und vielleicht eben auch durch das Stellen von kritischen Fragen, um die eine Kommunistin nicht herumkommt, wenn sie sich der sowjetischen oder staatskapitalistischen Realität stellt.
Im Film »Violeta Parra«, der solche Fragen ausblendet, wird sie von Francisca Gavilán überzeugend gespielt. In verstörenden und berauschenden Bilder ist er zu sehen, der Zauber, wie die junge Violeta die Gitarre des Vaters für sich entdeckt, aber auch die Verzweiflung über das Elend, wenn der Vater betrunken mit der Gitarre in einer Bar um sich schlägt. Es ist kein roman­tischer Film. Aber Francisca Gavilán als Violeta singt schön, klar. Etwa ein Lied, das sie für die Bergarbeiter geschrieben hat. Über deren Leben in elenden Hütten. Sie kämpft, erfährt Ausgrenzung – als Frau, als Landbewohnerin, als Kommunistin. Der Film ist bitter und voller Aufbegehren. Und er ist komplex, springt oft zwischen den Zeit­ebenen, stellt so Bezüge her, die ihre Lebensbedingungen noch härter erscheinen lassen.
Die Kinderperspektive, die der Film auf das Leben und Handeln von Violeta Parra einnimmt, verstärkt den Blick auf den Alltag. Unmittelbar wird es gezeigt, das Ringen um die Lieder, die Musik, der Wunsch nach Befreiung von Ausbeutung, Konkurrenz und Diskriminierung. So gelungen ihre soziale Lage gezeigt wird, ihr Empfinden für Musik, ihre Kompositionen, ihre Lieder, so sehr fehlt jedoch der politische Hintergrund. Es ist, als ob der Film da stehenbleibt, wo die chilenische Linke sich heute sieht: als traditionell begründete, soziale Bewegung. Dies ist kein Wunder und spiegelt im engeren Sinn den Stand der chilenischen Linken wieder, da sie sich bis heute nicht aus dem Schatten der Militärdiktatur emanzipieren konnte, immer noch die Kämpfe von gestern kämpft und sich nicht wieder erholt hat vom Verlust der Genossinnen und Genossen, die ermordet oder gebrochen wurden.
Aber für eine lebendige kommunistische Bewegung von heute ist es notwendig, neue Antworten zu geben. Angefangen damit, wie sich Violeta Parra gegenüber der Sowjetunion und den staatskapitalistischen Ländern verortet hat. Indifferent war sie gewiss nicht. Auch nicht gegenüber dem Patriarchat, gegen dessen Zwänge sie als Frau, Mutter, Sängerin, Künstlerin immer wieder Sturm gelaufen ist im eigenen Leben. Aber nach dem 11. September 1973, dem Militärputsch gegen die Regierung unter Salvador Allende, kam der 11. September 2001. Seitdem kann niemand mehr behaupten, der auf die USA fixierte Antiimperialismus sei per se links, sei unschuldig. Gerade in der chilenischen Linken gibt es aber ein traditionalistisches Beharren auf einem bipolaren Weltbild, das keinen reaktionären Antiimperialismus kennt. Leben und Lieder von Violeta Parra sind aber auch für einen emanzipatorischen Antiimperialismus zu entdecken, der im Aufbegehren gegen soziales und kulturelles Elend, im Entdecken von Widerstandskultur in der mündlichen Überlieferung eben nicht das Ressentiment gegen die Gringos, sondern die Befreiung sucht.

Violeta Parra. (Chile, Argentinien, Brasilien 2011),
Regie: Andrés Wood. Darsteller: Francisca Gavilán, Cristián Quevedo, Thomas Durand. Kinostart: 29. November