Was wollen die Muslimbrüder?

Der Weg ist das Ziel

Die ägyptische Muslimbruderschaft will die Macht monopolisieren, doch was ein ­islamischer Staat ist, wissen nicht einmal die Islamisten selbst.

Wer der Sharia folgt, kann auch in einer Bar landen. Protestierende, die nach einem heißen Tag auf dem Tahrir-Platz in Kairo auf der Sharia al-Tahrir gen Osten gehen, können am Falaki-Platz im »Horreya« ein kühles Bier trinken. Noch, denn falls sich die Islamisten durchsetzen, ist auch der Alkoholausschank in Gefahr.
Sharia bedeutet »gebahnter Weg« oder »Weg zur Wasserstelle«, im übertragenen Sinn steht der Begriff für den »rechten Weg«, wie er in Koran und Sunna (islamischer Überlieferung) dargelegt wurde. Doch die Wegweiser sind dünn gesät, weil der Prophet Mohammed nur nach Bedarf einige Vorschriften improvisierte, und zudem oftmals schwer zu deuten.
Die Regeln der Rechtsfindung, die nach orthodoxer Ansicht auf dem Koran und der Sunna basieren muss und sich nur weniger Interpretationsmethoden bedienen darf, erschweren eine liberale Auslegung. Dennoch bleibt ein breiter Interpretationsspielraum und es ist unklar, was auf die ägyptische Bevölkerung zukommt, wenn der Verfassungsentwurf zum Gesetz werden sollte, der die »Prinzipien der Sharia« zur »Hauptquelle der Gesetzgebung« erklärt. Diese Formel stand bereits in der alten Verfassung, einige ergänzende Artikel, die unter anderem die Schaffung eines beratenden Gremiums von Theologen der al-Azhar-Universität vorsehen, lassen jedoch darauf schließen, dass »islamische Gesetze«, die derzeit vor allem im Familienrecht gelten, auch auf andere Bereiche angewendet werden sollen.

Ihr Machtbewusstsein und die Bereitschaft, demokratische Regeln zu missachten, hat die Muslimbruderschaft zur Genüge bewiesen. Doch scheint das Ziel eher eine »gelenkte Demokratie«, ein islamischer Putinismus, als eine Theokratie zu sein. Für einen »Gottesstaat« nach iranischem Muster fehlen den sunnitischen Islamisten die Voraussetzungen. Ayatollah Khomeini war der einzige islamistische Theoretiker, der ein Staatsmodell entwickelte, und dieses Modell ist auf die spezifischen Verhältnisse im schiitischen Iran mit seiner ökonomisch und politisch unabhängigen Geistlichkeit zugeschnitten.
Wie sich sunnitische Islamisten einen gottgefälligen Staat vorstellen, ist hingegen unklar. Saudi-Arabien, dessen Monarchie aus der Eroberung des Landes durch den Clan der Sauds hervorging, gilt ihnen nicht als Vorbild. Die dynastische Erbfolge wird abgelehnt, das islamistische Ideal ist eine republikanische Despotie oder Autokratie. In der strikten Auslegung, die Sayyid Qutb propagierte, wird die Volkssouveränität zurückgewiesen. Sie gilt als Kennzeichen der Jahiliyya (gottlose Ignoranz). Dass ein starker Mann die Regierung führen muss, ist für Islamisten selbstverständlich. Ob er dies als Wahlmonarch oder Präsident mit begrenzter Amtszeit tun soll, ist umstritten. Auch die Rolle der Geistlichkeit wird nicht definiert. So etwas wie ein Parlament soll es geben, doch während klar ist, was dieses Parlament nicht darf, nämlich der Sharia widersprechende Gesetze beschließen, sind die Befugnisse der Abgeordneten nicht geregelt.
Die Muslimbruderschaft befürwortete ursprünglich ein Parlament ohne Parteien, sie hat die strikte Interpretation der islamistischen Prinzipien in jüngerer Zeit relativiert, diese aber nicht explizit verworfen. Das Bizarre an der derzeitigen Situation ist, dass die Muslimbrüder zwar alles tun, um ein Machtmonopol zu erlangen, aber selbst nicht zu wissen scheinen, was sie damit anfangen sollen. Ihre Ideologie ist reaktionär-romantisch, das Hauptziel ist die Verbreitung einer neuen Moral in der Gesellschaft. Gelingt es, den neuen islamischen Menschen zu schaffen, folgt die Verbesserung der gesellschaftlichen Zustände von selbst: »Der Islam ist die Lösung.« Dass die Muslimbrüder neben einigen Prinzipien nur nebulöse Parolen zu bieten haben, ist die notwendige Folge dieser Ansicht.

Die Schwammigkeit der Theorie hat Vorteile. Sie bietet islamistischen Politikern große Handlungsfreiheit, zudem können sie ihre Ziele hinter der in einer konservativ geprägten Gesellschaft populären Forderung verbergen, dem »rechten Weg« zu folgen. Darauf beruht wohl die Zuversicht der Muslimbrüder, die Mehrheit der Ägypterinnen und Ägypter werde den Verfassungsentwurf bei einem Referendum im Dezember annehmen. Doch sicher ist das keineswegs. Der kalte Putsch der Muslimbruderschaft hat nicht nur die heftigsten Proteste seit dem Sturz Hosni Mubaraks ausgelöst, auch unter Konservativen und Islamisten gibt es Zweifel und Widerspruch. Den Gemäßigten ist das Vorgehen zu rabiat. Junge Schläger das Verfassungsgericht belagern zu lassen, um die Richter, für Obrigkeitshörige per se Respektspersonen, zum gewünschten Urteil zu zwingen, betrachten konservative Patriarchen nicht als Ausdruck frommen Furors, sondern als unverzeihliche Flegelei.
Auch an der al-Azhar-Universität hält sich die Begeisterung in Grenzen. Einigen Azharis wie Samir al-Sheikh ist die Bindung der Verfassung an die Sharia nicht eng genug, andere wollen sich aus der Politik heraushalten. Überdies ahnen die Religionsgelehrten wohl, dass al-Azhar kaum als einzige Institution vom Machthunger der Muslimbrüder verschont bleiben dürfte. So kursieren Gerüchte, der als gemäßigt geltende Universitätspräsident Ahmed al-Tayyeb solle gestürzt werden. Er hatte Ende November Präsident Mohammed Mursi ermahnt, der Rechtsstaatlichkeit und dem Dialog Priorität einzuräumen.
Uneinigkeit herrscht auch unter den Salafisten. Ein Verfassungsreferendum ist aus islamistischer Sicht eigentlich unzulässig, da es den Menschen gestattet, über die Sharia abzustimmen. Überdies ist den Salafisten der Entwurf nicht strikt genug, denn es ist nur von den »Prinzipien der Sharia« die Rede, und diese sollen nicht die einzige Quelle der Gesetzgebung sein. Doch am Wochenende bezeichnete Galal Morah, der Generalsekretär der salafistischen Partei Nur, das Referendum als »richtigen Schritt, um Stabilität in Ägypten zu erreichen«. Das ist nicht nur eine verwegene Einschätzung, sondern auch ein Beleg dafür, dass die Salafisten, die sich als Bewegung der religiösen Reinheit darstellen, gleichwohl taktieren. Offenbar erhoffen sie sich von der islamistischen Machtübernahme mehr gesellschaftlichen Einfluss.

Dass Islamisten sich blamieren, sobald sie an der Macht sind, hat sich in Ägypten einmal mehr bestätigt. Sie haben in wenigen Monaten gezeigt, was von ihren Bekenntnissen zur Demokratie zu halten ist, verhalten sich aber auch geradezu dummdreist. Um sich in einer Zeit des revolutionären Umbruchs gleichzeitig mit der säkularen Jugendbewegung, den derzeit vor allem von Mohammed al-Baradei repräsentierten Altliberalen, den Gewerkschaften, dem bürokratischen Esta­blishment und sogar vielen Konservativen anzulegen, muss man sehr von seiner religiösen Sendung überzeugt sein oder im Machtrausch den Kopf verloren haben. Oder beides.
Mit der Diskreditierung der Muslimbruderschaft beginnt eine gefährliche Phase, da die regierenden Islamisten in Versuchung geraten, die Flucht nach vorn anzutreten und alle Gegner zu unterdrücken. Das ist ohne den Einsatz des Militärs nicht möglich, die derzeit verdächtig schweigsamen Generäle warten aber nur darauf, als Vermittler auftreten und ihre Macht wieder stärken zu können. Dass eine Eskalation der Gewalt die Militärherrschaft wieder populär werden lassen könnte, ist vielleicht eine größere Gefahr als die Machtfülle Mursis.
Unfreiwillig trägt dieser sogar zur Aufklärung bei. Die verheerenden Folgen der islamistischen Machtpolitik im Iran und in Algerien sind den meisten der Jüngeren in der arabischen Welt kaum bekannt. Nun aber erscheint mit Mursi auf den Bildschirmen jeden Tag der lebende Beweis dafür, dass der Islam nicht die Lösung ist.