Der Roman »Anatomie der Nacht«

Ein Sommer aus Eis

Die österreichische Autorin Anna Kim durchstreift in ihrem neuen Roman ein Städtchen in der Arktis und erkennt, dass die Erderwärmung die Herzen der traurigen Ostgrönländer nicht hat schmelzen können.

Die kalte Stadt Amarâq gleicht einer Hölle aus Eis. Jeden Tag werden in der bettelarmen Metropole Ostgrönlands Variationen des Nichts durchdekliniert. Die Bewohner der Stadt bewegen sich schüchtern im Schatten überwältigender Eisberge durch die Straßen. Die gewaltige Naturkulisse spielt die Hauptrolle in diesen Breitengraden und verdammt die Menschen dazu, sich dem Eis und der gefährlichen Kälte unterzuordnen. Zu erleben ist wenig. Hier blättert an einer kläglichen Kneipe der Putz ab, dort verrottet ein schäbiger Supermarkt. So klein ist die Auswahl an Lebensmöglichkeiten, dass viele Einwohner Amarâqs versuchen, der Monotonie ihrer Heimat für immer den Rücken zu kehren. Wer Glück hat, nimmt eine Arbeit im erfolgreich modernisierten Westen des Landes an. Die Mutigen reisen nach Island, um von dort aus die große, weite Welt zu erobern. Kopenhagen zum Beispiel – die Hauptstadt der ehemaligen dänischen Kolonialherren bietet Kultur und erscheint den Auswanderern auch nicht ganz so fremd. Wer in der ostgrönländischen Eiswüste bleiben muss, hat Pech gehabt.
Mit dem Städtchen Amarâq hat die 1977 in Südkorea geborene, in Österreich aufgewachsene Anna Kim einen Ort geschaffen, der wie eine raffinierte literarische Allegorie wirkt – einen Ort am Ende der Welt, der so hoffnungslos ist, dass er an Dantes Hölle erinnert. Erst auf den zweiten Blick wird klar, wie realitätsgesättigt die Beschreibungen der Österreicherin sind, die sich im Korea Herald darüber amüsiert hat, dass man sie in Grönland wegen ihrer »asiatischen« Gesichtszüge für eine Inuit, eine Indigene, gehalten habe. Immer wenn Kim in ihrem neuen Roman »Anatomie einer Nacht« die Perspektivlosigkeit der Jugendlichen und die Abhängigkeit von Dänemark in den Blick nimmt, verweist der fiktive Ort Amarâq auf die reale Stadt Tasiilaq, deren 2 000 Einwohner sich heute mehr schlecht als recht durchschlagen. Die Verknüpfung von Interviews und Reiseberichten mit einer hochpoetischen Prosa hat Kim bereits in früheren Texten erprobt, etwa in ihrem 2008 erschienenen Roman »Die gefrorene Zeit«, der Hinterlassenschaften des Kosovokrieges erforscht und mit dem Humanitätspreis des Österreichischen Roten Kreuzes ausgezeichnet wurde.
Selbst die Idee, von einer einzigen Nacht im Spätsommer zu erzählen, in der sich mehrere Menschen innerhalb von fünf Stunden das Leben nehmen, basiert – so behauptet es jedenfalls die Autorin – auf einem authentischen Fall aus dem Jahr 2008 im Osten Grönlands. Die geballten Selbsttötungen »ohne Vorwarnung, ohne Ankündigung, ohne Abmachung«, sind ein dramatischer, wenngleich nicht neuer Einfall, den bereits Jeffrey Eugenides und Orhan Pamuk hatten. Im Anschluss an den Prolog, der wie ein Paukenschlag elf Freitode ankündigt, gibt Kim den Blick auf ihre Bühne frei und enthüllt die Trostlosigkeit einer »vermummten Stadt, die selbst im Sommer eine Stadt des Winters ist«. Das eisige Setting könnte perfekter nicht sein.
Doch dann verrutscht die ambitionierte Versuchsanordnung, und schon bald verheddert sich die Autorin in einem undurchdringlichen Gewirr von Erzählfäden. Die Leser werden von Erzählschnipseln überwältigt, die grausige Schicksale auftürmen. Von alkoholkranken Eltern, missbrauchten Kindern und vergewaltigten Frauen über traumatisierte Waisenkinder und ethnische Diskriminierungen bis hin zu Obdachlosigkeit und Mord wird alles versammelt, was nur irgendwie schrecklich ist. Zwar schält sich mancher Lebenslauf aus den Eisbergen marmor­glatter Traurigkeiten klar heraus und fesselt die Aufmerksamkeit. So ist die Geschichte des 59jährigen Obdachlosen Keyi, der in Kopenhagen einen Posten als Schlüsselwärter ergattert und zuschauen muss, wie seine dänische Frau Kristina das Interesse an ihm verliert, durchaus plastisch erzählt. Auch die Frustration der 20jährigen Studentin Sara Lund, die ihren dänischen Freund verlässt, weil er in ihr partout kein Individuum, sondern politisch korrekt die Repräsentantin einer unterdrückten Ethnie sehen will, wird plausibel gemacht. In der Nacht der Freitode hält Sara konsequenterweise 97 Tabletten bereit, um wenigstens durchs Sterben ihren Kokon vorgespielter Gefühle aufzubrechen. Und doch – etwas stimmt nicht. Der Glasmenagerie niederschmetternder Schicksale fehlt es an Leben.
Dass es in den Scharnieren knarrt, kann an mangelndem Sprachvermögen nicht liegen. Wenn es darum geht, die amorphe Lebensfeindlichkeit der nördlichen Landschaft zu beschwören, wird Kim zur lyrischen Virtuosin, zumal sie geschickt an österreichische Schreibtraditionen anknüpft und die alpinen Schneehorrorszenarien eines Adalbert Stifter zeitgemäß in Regionen verschiebt, die sich ihre Unzugänglichkeit bis heute bewahrt haben. Was fehlt, ist die Abwechslung. Obwohl von ganz unterschiedlichen Menschen, von Lehrern, Studentinnen, Schulkindern und Obdachlosen erzählt wird, verwendet Kim für jeden diesselbe Sprache und lässt alle Dialoge gleich klingen. Die Einförmigkeit aller Sprechweisen kann nicht überzeugen und produziert Langeweile. Wie man das paradoxe Kunststück hinbekommt, einen tristen Ort an der Peripherie vielstimmig und lebendig zu schildern, hat Judith Zander 2010 in ihrem ostdeutschen Dorfroman »Dinge, die wir heute sagten« gezeigt.
Freilich gibt es mit Blick auf die ostgrönländische Gesellschaft triftige ästhetische Gründe für eine Sprache, die statt im Individuellen im Kollektiven wurzelt. »Selbst die Existenz des Menschen ist unendlich, da das Individuum und die Gemeinschaft eins sind und der Einzelne unsterblich durch die Gruppe«, heißt es im Buch. Doch der Clou des Textes besteht ja gerade darin, dass die Autorin nur noch die postkolonialen Scherben eines einst womöglich intakten Kollektivs von Jägern und Sammlern zusammenfegt. Bezeichnenderweise gibt es in diesem Roman nur wenige Menschen, die noch von Fisch- und Robbenfang leben. Werden die Schulkinder nach ihren Zukunftsplänen gefragt, antworten sie »Elektriker«, »Mechaniker«, »keine«, »Koch«, »weiß nicht« und »Kindergärtnerin«. Längst hat sich das traditionelle Kollektiv der Inuit aufgelöst. Wenn Kim den Ostgrönländern Gürtel, Pillen und Stricke für die Selbsttötung reicht, ermöglicht sie ihnen noch einmal, sich traumwandlerisch als Kollektiv in Szene zu setzen.

Anna Kim: Anatomie einer Nacht. Suhrkamp, Berlin 2012, 299 Seiten, 19,95 Euro