Zwangsarbeit in deutschen Gefängnissen

Zwang hinter schwedischen Gardinen

In der DDR mussten politische Häftlinge und Strafgefangene für den Einrichtungskonzern Ikea Möbel bauen. Zwangsarbeit in Gefängnissen ist jedoch keine Spezialität der DDR, in der Bundesrepublik hat sie bis heute Verfassungsrang.

Unkompliziert und mit jedermann per Du, so präsentiert sich der schwedische Möbelkonzern Ikea der Öffentlichkeit. Wenn es jedoch um die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit, der Zwangsarbeit in DDR-Knästen geht, ist es mit der skandinavischen Lockerheit vorbei. Nachdem im Frühjahr ein schwedischer Fernsehsender erneut über die Produktion von Ikea-Möbeln durch politische Häftlinge und Strafgefangene in der DDR berichtet hatte, beauftragte Ikea die Unternehmensberatung Ernst & Young mit einer Untersuchung. 100 000 Archivseiten, unter anderem aus den Aktenbeständen der Stasi-Unterlagenbehörde, sichteten die Berater, dazu interviewten sie 90 Zeitzeugen und Betroffene. Heraus kam ein Gutachten von mehreren Hundert Seiten. Die Öffentlichkeit – Ex-Häftlinge eingeschlossen – bekam bei der Präsentation Mitte November aber nur ganze sechs Seiten davon zu sehen. »Aus Datenschutzgründen«, sagte Peter Betzel, Geschäftsführer von Ikea Deutschland. Immerhin verriet er, was die Consultants herausgefunden hatten: Politische Häftlinge und Strafgefangene aus den Knästen Waldheim, Naumburg und möglicherweise weiteren Gefängnissen der DDR mussten für Ikea Möbel bauen. Der Konzern wusste spätestens seit 1981 davon – habe aber »aus heutiger Sicht nicht ausreichende Schritte« unternommen, um das zu beenden, sagte Betzel. »Unsere Betroffenheit darüber ist sehr groß.« Eine Entschädigung der Arbeiter werde erwogen.

Es hagelte gleichwohl Kritik: »Es geht in meinen Augen nicht, dass ein Beschuldigter seine Taten selbst untersucht«, sagte der Direktor der Stasiopfer-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Hubertus Knabe. Weder Wissenschaftler noch DDR-Experten seien an der Untersuchung beteiligt worden. »Ikea hat nicht beantwortet, warum es damals nicht konsequent gehandelt hat, obwohl es von dem Einsatz politischer Häftlinge in Produktionsstätten der DDR wusste«, sagte der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn. Die FDP lud Ikea zu einer Bundestagsanhörung zum Thema Zwangsarbeit in der DDR ein, das Unternehmen lehnte jedoch eine Teilnahme ab. »Wir sind der Meinung, dass das Augenmerk nun nicht alleine auf dem Unternehmen Ikea liegen sollte«, sagte Unternehmenssprecherin Sabine Nold. Anfragen zum Thema lässt Ikea unbeantwortet.
Allerdings hat die Sprecherin des Möbelkonzerns nicht ganz unrecht. Denn Zwangsarbeit im Knast ist beileibe keine Spezialität der DDR. In der Bundesrepublik hat sie Verfassungsrang – bis heute. In Artikel 12 des Grundgesetzes heißt es: »Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.« Die Vollzugsverwaltungen machen von diesem Verfügungsrecht über die Arbeitskraft der Gefängnisinsassen weidlich Gebrauch. »Wir sehen uns als Alternative zu einer Verlagerung arbeitsintensiver Tätigkeiten in sogenannte Billiglohnländer«, sagt beispielsweise der Geschäftsführer des »vollzuglichen Arbeitswesens« in der JVA Schwäbisch Hall, Reiner Probst. Auch die JVA Dresden wirbt für sich als ostdeutsches Billiglohnparadies und Alterna­tive zu den Zeitarbeitsfirmen: »Für die Unternehmer ergeben sich eine Reihe von Vorteilen, wenn Sie in der Justizvollzugsanstalt Dresden produzieren lassen«, heißt es auf der Website des Gefängnisses. Der Einsatz von Gefangenen ermögliche »ein flexibles Reagieren auf schwankende Auftragslagen. Auftragsspitzen können kurzfristig abgefangen werden, ohne zusätzliches eigenes Personal vorhalten zu müssen.« Der Unternehmer zahle »grundsätzlich nur für tatsächlich erbrachte Leistungen« einen Stückpreis. Es entstehen »keine Kosten für Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder andere freiwillige Zusatzzahlungen« wie Urlaubs- oder Weihnachtsgeld.

Den Preis für diesen Standortvorteil zahlen die Gefängnisinsassen: Gemäß der Strafvollzugsvergütungsordnung erhalten diese ein jährlich neu festgelegtes Entgelt, das standardmäßig bei neun Prozent des durchschnittlich in Deutschland gezahlten Lohns liegt. 2011 waren dies 11,04 Euro für einen achtstündigen Arbeitstag. Allerdings gelten fünf verschiedene Entgeltstufen, so dass für unqualifizierte Tätigkeiten nur 75 Prozent des Entgelts gezahlt werden. Und weil die unqualifizierten Tätigkeiten das Gros der Knastarbeit ausmachen, erhalten Gefangene beispielsweise in Nordrhein-Westfalen durchschnittlich nur acht Euro – pro Tag. Allerdings gibt es einen Anspruch auf drei Wochen bezahlten »Urlaub« im Jahr.
Das Geld wird auf ein Konto der Anstalt gezahlt, frei darüber verfügen können die Gefangenen nicht: Das Strafvollzugsgesetz legt fest, was mit ihrem Lohn geschieht. Etwa 42 Prozent davon können die Arbeiter als »Hausgeld« im Knast-Shop ausgeben. Rund 1 800 Euro werden meist als sogenanntes »Überbrückungsgeld« für den ersten Monat nach ihrer Entlassung für sie angespart. Diese Summe kann nicht gepfändet werden, es ist den Justizvollzugsanstalten aber möglich, sie an den Bewährungshelfer statt an den Entlassenen selbst auszuzahlen. Der Rest ist sogenanntes »Eigengeld«, es steht den Gefangenen zur freien Verfügung, kann aber unter Umständen gepfändet werden. Wer sich im Knast weigert, angebotene Arbeit anzunehmen, kann bestraft werden: Streichung des Taschengeldes, bis zu vier Wochen Arrest oder der Ausschluss von künftigen Arbeitsgelegenheiten sind vorgesehen. Theoretisch ist es sogar möglich, nicht arbeitswilligen Gefangenen die Haftkosten in Rechnung zu stellen. In Baden-Württemberg werden die Haftkosten mit etwa 70 Euro am Tag angesetzt – so kann sich schnell ein Schuldenberg auftürmen. In der Praxis kommt diese Sanktion allerdings nur selten zur Anwendung, denn den JVA-Leitungen ist bewusst, dass bei den Gefangenen ohnehin nichts zu holen ist und dass der Pfändungsdruck nach einer Entlassung die Resozialisierungschancen deutlich verringern würde.

Wer im Knast »unverschuldet ohne Arbeit« und »bedürftig« ist, erhält ein Taschengeld von meist etwa 30 Euro im Monat. Das gilt nur für Gefangene, denen im Knast keine Arbeit angeboten wird. Die Übrigen stecken für Fluggesellschaften Plastikbesteck in Tüten, schreinern Möbel für die Berliner Verwaltung, reparieren Bücher für Berliner Schulen. In Brandenburg nähen die Gefangenen Flanellschlafanzüge für den knasteigenen Online-Shop, im hessischen Hünfeld rösten sie Kaffee. Doch den deutschen Gefängnissen geht die Arbeit aus. »Früher haben die Anstalten sogenannte Regiebetriebe selbst geführt«, sagt Johannes Feest, Leiter des Strafvollzugsarchivs an der Universität Bremen. »Doch das kostet Geld und wurde vielfach eingespart.« Und die externen Betriebe, die Handarbeit in den Knast auslagerten, »haben das nach Osteuropa verlagert – da ist es noch billiger«, sagt Feest. Derzeit gehen Schätzungen zufolge nur noch rund 50 Prozent aller Gefangenen in Deutschland einer Arbeit nach – Tendenz fallend.
Deshalb diskutieren die SPD-geführten Bundesländer seit einiger Zeit einen Musterentwurf für ein einheitliches Vollzugsgesetz. Eine der wichtigsten Neuerungen darin ist die Aufhebung des Arbeitszwangs. »Den Gefangenen soll auf Antrag oder mit ihrer Zustimmung Arbeit zugewiesen werden«, heißt es in Paragraph 22. Auch andere Tätigkeiten wie die sogenannten »arbeitstherapeutischen Maßnahmen« sollen künftig bezahlt werden. Feest fürchtet, dass die Anstaltsleitungen diese Art von Beschäftigung deshalb künftig seltener anbieten könnten. In der vorigen Woche verabschiedete das Brandenburger Kabinett ein neues Vollzugsgesetz, das auf dem Musterentwurf der SPD beruht. Künftig sollen alle Gefangenen einem Diagnoseverfahren unterzogen werden, mit dem die Gründe für die Straffälligkeit analysiert werden. Sie sollen Qualifizierungsmaßnahmen oder Therapiestunden in Anspruch nehmen können, die vergütet werden – die Abschaffung der Arbeitspflicht soll Anreize für die Teilnahme schaffen.
Es sei aus juristischer Sicht »nie ganz einzusehen gewesen«, weshalb man Gefangene überhaupt zur Arbeit zwingen könne, sagt der Jurist Feest. Die Arbeitspflicht im Strafvollzug widerspreche »total dem Grundsatz der Angleichung des Lebens im Gefängnis an normale Lebensverhältnisse«. Die Gefangenen seien »zum Freiheitsentzug verurteilt und nicht zur Zwangsarbeit«, so Feest. »Und dass man die knasttypische Langeweile durch minderwertige Ordnungsarbeiten vertreiben kann, dürfte ein von den Vollzugsverwaltungen ausgestreutes Gerücht sein.«
Ikea lässt übrigens auch heute noch in Haftanstalten produzieren. Dafür interessiert sich aber selbstverständlich weder Hubertus Knabe von der Stasiopfer-Gedenkstätte noch die FDP.