Die Leiharbeit in Deutschland. Geschichte und Gegenwart

Befreit euch selbst!

Die Gesetzesänderung, die formell das Prinzip des equal pay und equal treatment für Leiharbeiter in Betrieben einführt, wird keine substantiellen Verbesserungen bringen. Zur Geschichte der Leiharbeit in Deutschland und zur Rolle der Gewerkschaften.

Der 1. November war ein wichtiger Tag für deutsche Leiharbeiter. Seit diesem Datum gilt für alle Mitarbeiter eines Unternehmens, dass jeder entsprechend seinem Aufgabenbereich gleich bezahlt und behandelt werden muss. Equal pay und equal treatment sind Forderungen, die seit langer Zeit immer wieder von den Leiharbeitern und den Gewerkschaften aufgestellt wurden. Sie sind nun nach einem langem Kampf endlich gesetzlich fix­iert worden. Ausnahmen, so regelt das deutsche Arbeitnehmerüberlassungsgesetz in § 9 und § 10, kann es nur auf der Grundlage eines Tarifabschlusses geben. Wer sich aufgrund dieser Gesetzesänderung nun jedoch die Hoffnung macht, dass sich die Situation der Leiharbeiter in deutschen Unternehmen zumindest ein wenig verbessern könnte, hat nicht mit den Gewerkschaften gerechnet. Denn genau diese im Gesetz erwähnten von den Gewerkschaften ausgehandelten Tarifabschlüsse sind es jetzt, die die gesetzliche Festschreibung von equal pay und equal treatment torpedieren und dafür sorgen, dass die gesetzlichen Standards, zu denen Leiharbeiter ihre Arbeitskraft anbieten müssen, systematisch unterlaufen werden.

Auch wenn die Liberalisierung der Leiharbeit zum Großteil auf die rot-grüne Regierung zurückzuführen ist, gibt es Leiharbeit in Deutschland schon viel länger. Bereits kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges wurden hierzulande die ersten Leiharbeitsunternehmen gegründet. 1922 wurde im Arbeitsnachweisgesetz das Vermitteln von Arbeitskräften gegen eine Gebühr zum ersten Mal gesetzlich geregelt. Teile dieses Gesetzes wurden 1927 in das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) übernommen. Im Jahr 1935, nach der Machtübernahme Hitlers, wurde die gesamte Arbeitsvermittlung vom Staat monopolisiert und damit den deutschen Leiharbeitsunternehmen die Geschäftsgrundlage entzogen. Als 1952, in der neu geschaffenen Bundesrepublik, die »Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung« gegründet wurde, wurden die gesetz­lichen Bestimmungen der vorhergehenden Jahre einfach übernommen.
Erst im April 1967 wurde das Verbot der Leiharbeit durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes wieder aufgehoben. Als Begründung dafür diente das Grundrecht auf eine »freie Berufswahl«. Trotzdem fristete in den folgenden Jahren die Arbeitnehmerüberlassung ein Schattendasein auf dem Arbeitsmarkt. Eines der großen Hindernisse für das Geschäft mit den Arbeitskräften war die bestehende Beschränkung der Verleihdauer auf drei Monate. Zwischen 1985 und 2003 jedoch wurde diese Befristung schrittweise verlängert und schließlich vollständig aufgehoben. Darüber hinaus wurde 2003 auch das Synchronisationsverbot eingeschränkt, das dafür sorgte, dass Arbeitnehmer von einem Verleiher nicht nur für ein bestimmtes Unternehmen oder ein bestimmtes Projekt angestellt werden durften. Spätestens ab diesem Zeitpunkt galt für Leiharbeiter die bekannte Maxime »Hire and fire«.
Trotz der negativen Entwicklungen dieser Jahre waren die Leiharbeiter in Deutschland jedoch nicht völlig verlassen von der Politik. So gab es für sie durchaus auch positive Entwicklungen. Aufgrund einer EU-Initiative wurden die Grundsätze equal pay und equal treatment in das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz aufgenommen – Regelungen, die dafür sorgen sollen, dass Leiharbeiter innerhalb der Unternehmen nicht schlechter behandelt oder bezahlt werden als direkt angestellte Mitarbeiter. Neben dieser gesetzlichen Änderung wurde auch die Möglichkeit geschaffen, dass die Gewerkschaften eigene Tarifverträge für die Leiharbeiter abschließen dürfen, die von den gesetzlichen Vorgaben des equal pay und equal treatment abweichen.

Genau diese Hintertür im Gesetz – die deutsche Tarifautonomie – wurde von den Arbeitgebern, gemeinsam mit den christlichen Gewerkschaften, reichlich genutzt. So wurde im Februar 2003 zwischen der Interessengemeinschaft »Nordbayerischer Zeitarbeitsunternehmen« und der »Christlichen Gewerkschaft Zeitarbeit« ein entsprechender Tarifvertrag abgeschlossen, mit deutlich schlechteren Bedingungen für die Zeitarbeiter, als ansonsten per Gesetz gegolten hätten. Nachdem diesen christlichen Gewerkschaften die ­Tarifautonomie aberkannt wurde, sprangen die DGB-Einzelgewerkschaften in die Bresche und schlossen ihrerseits Tarifverträge mit den Arbeitgebern ab – mit demselben schlechten Ergebnis für die Leiharbeiter.
So schloss die IG-Metall im November 2012 einen Tarifvertrag ab, in dem nur eine schrittweise Angleichung der Bezüge der Leiharbeiter an die Bezüge der direkt angestellten Mitarbeiter vorgesehen ist. Würde die von der EU vorgeschriebene equal pay-Lösung angewendet, müssten ab dem ersten Tag identische Gehälter bezahlt werden.

Dieser Tarifvertrag muss sicherlich erklärt werden. Der relativ unflexible Arbeitsmarkt in Deutschland, der in der Vergangenheit durch die Hartz-Reformen aufgebrochen und flexibilisiert wurde, war nicht nur für die Arbeitgeber ein Ärgernis. Auch für die alteingesessenen Gewerkschaften stellte die Situation ein Problem dar. Da die Unternehmen flexibler auf die Anforderungen der Märkte reagieren wollten, musste diese Flexibilität von dem Arbeiter und Angestellten mitgetragen werden. Diese Entwicklung jedoch bedrohte die in den Gewerkschaften organisierte Arbeiterschaft in ihrer eigenen wirtschaftlichen Position. Die Lösung, sowohl für Arbeitgeber als auch für Gewerkschaften, lag auf der Hand. Eine neue Figur musste geschaffen werden: der hochflexible Leiharbeiter. Während heute also die organisierte Arbeitnehmerschaft die relative Sicherheit ihrer Festanstellung genießt, wurden die Gefahren der Flexibilisierung auf die Gruppe der Leiharbeiter abgewälzt. Dieses System der unterschiedlich angestellten Mitarbeiter sicherte nicht nur die Gewinne der Unternehmen, sondern zusätzlich noch die guten Löhne und sicheren Arbeitsverhältnisse der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft.
Das »Abarbeiten von Auftragsspitzen« und die immer wieder beschworene »Flexibilität« sind die Stichworte, die gebetsmühlenartig und medienwirksam angeführt werden, wenn es um die vermeintliche wirtschaftliche Notwendigkeit von Zeitarbeit geht. So verständlich es ist, dass die Entleiher den aus ihrer Sicht positiven »Nebeneffekt« des Lohndumpings nicht als Motivation anführen, so unverständlich ist es, dass die IG Metall einen Tarifvertrag abschließt, der allein durch sein Zustandekommen die stets von Gewerkschaftsseite vorgetragene Forderung nach »gleichem Lohn für gleiche Arbeit« ad absurdum führt.
Die verschiedenen DGB-Gewerkschaften unterschrieben nach und nach Tarifvereinbarungen, die zwar für die Leiharbeiter im Vergleich mit den Abschlüssen der christlichen Gewerkschaften durchaus Verbesserungen mit sich brachten. Doch das Ziel der Tarifabschlüsse blieb für beide Seiten eine Verhinderung des equal pay und equal treatment. Dazu wäre es von Gesetzes wegen gekommen, wenn es der Zeitarbeitsbranche nicht gelungen wäre, die im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz vorhandene Hintertür zu nutzen. Diese besteht im Abschluss eines Tarifvertrages, der es ermöglicht, vom Gesetz abweichende Regelungen – also auch Verschlechterungen – zu vereinbaren. Der Abschluss der IG Metall war für die Aufrechterhaltung dieser Konstellation zwar nicht mehr notwendig, hat aber mit seinem »Vorbildcharakter« dafür gesorgt, dass der unmittelbare und in letzter Zeit stetig gewachsene Handlungsdruck, vor allem auf Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, erheblich nachgelassen hat.
Dieses Vorgehen offenbart erneut das Problem der sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaften: die Unfähigkeit, sich über Sonntagsreden hinaus für mehr als nur die unmittelbaren Interessen der eigenen Mitglieder stark zu machen. Leittragende sind in diesem Fall die Leiharbeiter. Da diese Übereinkunft zwischen Entleihern, Verleihern und Gewerkschaften nicht nur die Gewinne der einen sichert, sondern auch die Arbeitsplätze der anderen – da es ja die Leiharbeiter sind, die in Krisensituationen zuerst ihren Job verlieren –, wird sich daran auch so schnell nichts ändern. Da können sich die sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaften rhetorisch noch so sehr aufplustern, praktisch wird es genauso wenig Konsequenzen haben wie der immer wieder lautstark von den Gewerkschaften beschworene Internationalismus. Für die Leiharbeiter kann die Konsequenz aus dieser Interessenkonstellation daher nur lauten: Es kann die Befreiung der Leiharbeiter nur das Werk der Leiharbeiter selbst sein.