Die argentinische Opposition gegen die Regierung von Christina Kirchner

»Chávez besitzt Öl und Kirchner nur Soja«

Im September und November demonstrierten in Argentinien Hunderttausende, vor allem Angehörige der Mittelschicht, gegen die Politik der Regierung von Cristina Fernández de Kirchner. Über die Proteste, den Kirchnerismus und seine Ideologie sprach die Jungle World mit Juan José Sebreli. Der 82jährige Philosoph, Soziologe und Literaturkritiker gilt als einer der wichtigsten Intellektuellen Argentiniens.

Wer organisierte die Proteste und warum?
Die Proteste wurden nicht in klassischer Weise, etwa durch die Opposition, initiiert, sondern über soziale Netzwerke. Eine zentrale Forderung gibt es nicht, sondern viele einzelne Kritikpunkte: die Unsicherheit, die Inflation, der desaströse Zustand der politischen Institutionen, die Korruption und die geplante Verfassungsänderung zur Wiederwahl der Präsidentin.
2001 erlebte Argentinien eine der schwersten ökonomischen Krisen seiner Geschichte, in der Folge gab es teils gewaltsame Massenproteste. Gibt es Ähnlichkeiten mit der heutigen Situation?
Als 2001 mit der Ökonomie auch das gesamte Sozialgefüge des Landes zusammenbrach, kam Toni Negri nach Buenos Aires. Die Massenproteste fasste er als Beleg für seine Theorie auf: Die repräsentative Demokratie war am Ende und für ihn begann eine direkte Demokratie. Es existierte jedoch kein politisches Programm, sondern nur die negative Losung, dass alle Politiker gehen sollen. Sie sind aber alle zurückgekommen und die schlimmsten sind geblieben. Abgesehen davon forderten einige Protestierende eine Revolution, andere aber wollten lediglich ihre Dollars von den Konten abheben können. Der heutige Niedergang unserer Demokratie ist Ergebnis dieser multitude, die auszog, um eine schlechte, aber verfassungsmäßige Regierung durch das heutige Desaster zu ersetzen. Die gegenwärtigen Proteste sind nicht so inkohärent wie die vergangenen. Sämtliche Forderungen haben einen gemeinsamen Adressaten: die Regierung.
Was ist das zentrale Problem der Regierung?
Es ist seit über 50 Jahren der Populismus. Der heutige Kirchnerismus ist nichts anderes als die Neuauflage des alten Populismus. Eingeführt 1945 von Juan Domingo Perón, scheint Argentinien ihn nicht mehr loszuwerden. Selbst Regierungen, die sich nicht als peronistisch bezeichnen, imitieren das peronistische Modell – ökonomisch wie politisch. Dabei ist der Populismus weder eine Neuheit noch eine lateinamerikanische Besonderheit. Max Weber beschrieb ihn treffend als plebiszitären Cäsarismus. Genau das ist der klassische Peronismus, ebenso wie der lateinamerikanische Neopopulismus von Hugo Chávez, Evo Morales, Rafael Correa oder den Kirchners: eine klassische Kategorie mit lokalen Ausprägungen.
Entwickelt sich Argentinien also nach venezolanischem Vorbild?
Die Macht Cristina Kirchners ist nach wie vor sehr begrenzt und nicht vergleichbar mit der von Chávez. Das Militär steht nicht hinter ihr. Abgesehen davon besitzt Chávez Öl und Kirchner nur Soja. Im Moment reichen die Einnahmen aus, um einige Sozialprogramme zu finanzieren, doch auf lange Sicht ist das natürlich nicht mit dem venezolanischen Erdöl zu vergleichen. Worin Kirchner Chávez in nichts nachsteht, ist der Wille, ihre Macht weiter zu festigen.
Die Opposition kritisiert, dass das neue Mediengesetz (siehe Seite 14) ein weiterer Schritt in diese Richtung sei.
Es könnte das Ende der unabhängigen Bericht­erstattung sein. Technisch bedeutet es das Ende der Clarín-Gruppe. Ohne Zweifel hat Clarín eine Monopolstellung innerhalb der argentinischen Medien. Doch schlimmer als das Monopol von Clarín wäre ein staatliches. Genau darauf zielt dieses Gesetz aber ab.
Eine wichtige Rolle in der ideologischen Entwicklung des Kirchnerismus spielt die Gruppe »Carta Abierta«. Die Diskussion um eine weitere Präsidentschaft Cristina Kirchners und die ­dafür nötige Verfassungsänderung wurde von Mitgliedern der Gruppe vorangetrieben.
Das ist eine Gruppe von Intellektuellen, vornehmlich mit europäischer Bildung, die sich selbst jedoch als lateinamerikanische und damit per se linke Intellektuelle begreifen. Walter Benjamin findet bei ihnen großen Zuspruch.
Benjamin hat in weiten Teilen Lateinamerikas großen Anklang gefunden. Wie wird er im Umfeld der Carta Abierta rezipiert?
Benjamins Schriften verfügen über eine prophetisch-messianische Ader. Ricardo Forster, der gegenwärtige Vordenker von Carta Abierta, knüpft genau daran an. Zunächst befasste sich Forster nicht mit politischer Philosophie, vielmehr versuchte er sich innerhalb eines kulturwissenschaftlichen Rahmens an einer Philosophie der Literatur. Hier entdeckte er auch Benjamin. Nun kann man zu Recht fragen, wie Benjamins Denken mit dem Kirchnerismus kompatibel ist. Der Diskurs des Kirchnerismus dreht sich um Befreiung und Erlösung und ist messianisch konnotiert. Hier findet Forster Anknüpfungspunkte bei Benjamin. Sicher ist Benjamin eine sehr interessante Person, sein Denken an manchen Stellen jedoch kritikwürdig. Nicht zuletzt wegen seiner Wertschätzung für Carl Schmitt.
Philosophisch ist auch Ernesto Laclau zentral für den Kirchnerismus.
Eigentlich geht das gesamte philosophische Fundament des Kirchnerismus auf Laclau zurück. Laclau selbst ist ebenso paradox wie der ganze Kirchnerismus. Er kommt aus dem peronistischen Trotzkismus. Den ersten Zuspruch von linker Seite erhielt Perón aus der trotzkistischen Gruppe um Jorge Abelardo Ramos, in der sich damals auch Laclau befand. Anschließend geht er nach Europa, lernt dort die damaligen philosophischen Moden, Althusser, Poststrukturalismus, Lacanianismus, kennen und vermischt sie mit dem Trotzkismus-Peronismus seiner Jugend. Aus diesem Wirrwarr entsteht letztlich die ideologische Grundlage von Carta Abierta und des Kirchnerismus.
In ihrem kürzlich erschienen Buch »El malestar de la política« (Das Unbehagen der Politik) erwähnen Sie, dass sich der Kirchnerismus immer stärker auf Carl Schmitt bezieht. Wie ist das zu verstehen?
Die beiden zentralen Themen, die sich bei Schmitt wie im Kirchnerismus finden, sind der Dezisionismus, also die Abneigung gegenüber der parlamentarischen Debatte zugunsten der autoritären Entscheidung, sowie die Konzeption eines Freund-Feind-Schemas. Für den Kirchnerismus existieren keine politischen Widersacher mehr, mit denen fruchtbare Diskussionen geführt werden können, sondern nur noch Feinde, die es auszuschalten gilt. Schmitt wurde bereits im klassischen Peronismus aufgegriffen, damals jedoch von Teilen des rechten Flügels. Heute sind es die scheinbar Linken von Carta Abierta. Offensichtlich findet das Denken Schmitts genauso seinen Weg in den sozialistischen Nationalismus von heute, wie es ihn in den dreißiger Jahren in den Nationalsozialismus fand. Ich finde es daher auch problematisch, weiterhin von einer Linken und Rechten zu sprechen. Die meisten Gruppen, die sich hier als Linke definieren, sind Populisten oder Linksnationalisten, was letztlich das gleiche ist. Den Nationalismus habe ich immer mit der Rechten verbunden, was aber bedeuten würde, dass es sich bei den hiesigen Linken lediglich um verkleidete Rechte handelt.
Im vergangenen Jahr wurde in Argentinien ein weltweit einzigartiges Gesetz zur sexuellen Selbstbestimmung erlassen. Handelt es sich hierbei nicht um progressive, linke Politik?
Weder im Peronismus noch im Kirchnerismus wurden jemals derartige Forderungen formuliert. Abgesehen davon, ist es widersprüchlich, für eine sexuelle Liberalisierung einzutreten und gleichzeitig die Legalisierung von Abtreibungen abzulehnen, wie es Cristina Kirchner tut. Ich glaube daher, dass die Regierung an der Sache selbst nicht sonderlich interessiert ist, sondern dass es sich um eine taktische Entscheidung handelt. Betrachtet man die Politik des Kirchnerismus etwas genauer, kann man sicher nicht von einem progressiven Ansatz sprechen. Das Steuersystem ist absolut rückschrittlich und trifft in erster Linie die ärmere Bevölkerung. Gleiches gilt für die Inflation. Leidtragende sind hier vor allem die Arbeiter. Heute ist die Armut deutlich größer als in der verteufelten Epoche des Neoliberalismus der neunziger Jahre. Mit der sexuellen Liberalisierung versucht die Regierung lediglich, ihren linken Ruf zu bewahren.