Proteste gegen die Islamisten in Tunesien

Die tunesische Machtprobe

Nach schweren Zusammenstößen zwischen Gewerkschaftern und Anhängern der islamistischen Partei al-Nahda kündigt die UGTT einen Generalstreik an.

Die Zeichen stehen auf Sturm in Tunesien. Eine ernsthafte Machtprobe zwischen Mitgliedern des Gewerkschaftsbundes UGTT und den Anhängern der islamistischen Partei al-Nahda, die die Übergangsregierung dominiert, scheint unvermeidlich. Bereits am Donnerstag voriger Woche kam es zu weithin befolgten Generalstreiks in vier Gouvernoraten des Landes, in Sfax, Gafsa, Kasserine und in Sidi Bouzid, wo im Dezember 2010 der Aufstand gegen den bald darauf gestürzten Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali begann. Für diesen Donnerstag hat die UGTT eine weitere Eskalationsstufe angedroht: einen landesweiten Generalstreik. Damit würde der Konflikt zwischen der mächtigen Gewerkschaft und den Anhängern von al-Nahda offen ausbrechen.
In der Geschichte der UGTT wäre es erst das zweite Mal, dass ein solcher landesweiter Generalstreik organisiert wird. Im Januar 1978 eskalierte der Konflikt der UGTT mit der damaligen Staatspartei Neo-Destour unter dem Staatsgründer Habib Bourguiba. Am Tag des Generalstreiks, dem »schwarzen Donnerstag«, erschoss die Armee mehr als 100 Menschen, über 1 500 Verhaftungen folgten, die Führung der UGTT landete im Gefängnis. Gegen das Regime Ben Alis beschränkte sich die UGTT am 14. Januar 2011, dem Tag seiner Flucht, auf eine zweistündige Arbeitsniederlegung, wenngleich sie durch Unterstützung der rebellierenden Jugendlichen im Landesinnern und regionale Generalstreiks zu seinem Sturz entscheidend beigetragen hatte.
Den Anlass für die Ankündigung des Generalstreiks bildeten schwere Zusammenstöße von Gewerkschaftern mit Anhängern von al-Nahda am Dienstag voriger Woche. Zusammen mit dem Front Populaire, ein Zusammenschluss linker Parteien, der nach Umfragen bei Wahlen auf dem dritten Platz landen würde, wollte die UGTT von ihrem Sitz in Tunis aus eine Demonstration veranstalten, anlässlich des 60. Todestags des Antikolonialisten und Gründers der UGTT, Farhat Hached, der 1952 von der französischen Terrororganisation La Main Rouge ermordet worden war. Doch der Platz Mohammed Ali vor der Gewerkschaftszentrale füllte sich anderthalb Stunden vor Beginn der geplanten Demonstration mit Hunderten Anhängern von al-Nahda, unter ihnen auch Mitglieder der sogenannten Ligen zum Schutz der Revolution, die die UGTT und die Opposition als »Milizen al-Nahdas« bezeichnen. »Die Absicht ist offensichtlich«, schreibt der Journalist Seif Soudani, der die Konfrontation miterlebte, »die gewerkschaftliche Hochburg zu überschwemmen, um einen Marsch, dieses Jahr im Ausmaß einer Demons­tration, im Keim zu ersticken.« Angesichts der feindlichen Menge kam der Ordnerdienst der UGTT mit Knüppeln aus dem Gewerkschaftsgebäude und ging auf die Gegendemons­tranten los, eine wilde Keilerei begann. Die Übermacht ihrer Gegner zwang die Gewerkschafter zurück ins Gebäude, das fast gestürmt worden wäre. Es gab ein Dutzend Verletzte, unter ihnen drei Funktionäre der UGTT.
Seitdem tobt ein Propagandakrieg zwischen UGTT und Opposition einerseits, al-Nahda und Unterstützern andererseits. Auf einer Pressekonferenz beschuldigte Rachid Ghannouchi, der Vorsitzende von al-Nahda, die UGTT, in ihren Sitzen Knüppel und Waffen anzuhäufen, eine implizite Drohung mit Hausdurchsuchungen. Der Generalsekretär der UGTT, Houcine Abassi, verkündete: »Sie wollen die Konfrontation, sie werden sie bekommen!« Man habe »Farhat Hached ein zweites Mal ermordet, an seinem Todestag«. Das Führungsgremium der UGTT rief zum Generalstreik für den 13. Dezember auf und forderte die Übergangsregierung auf, die Ligen zum Schutz der Revolution aufzulösen und die Verantwortlichen für die Zusammenstöße vor der Gewerkschafts­zentrale in Tunis vor Gericht zu bringen. Zudem kündigten die Gewerkschafter die Erhebung einer Klage bei der Internationalen Arbeitsorganisation an.
Etwa 60 oppositionelle Abgeordnete der verfassungsgebenden Versammlung boykottierten deren Sitzungen für drei Tage. Seif Soudani zufolge demonstrierten in Sfax vorige Woche 40 000 bis 60 000 Menschen für die UGTT, eine Demonstration für al-Nahda brachte dort 10 000 bis 12 000 Menschen auf die Straße. Der al-Nahda nahestehende »Hofprediger« Béchir Belhassen erließ eine Fatwa gegen den Generalstreik, den er als »Sünde« bezeichnete. Mohammed Abbou, der Generalsekretär des Kongresses für die Republik (CPR), zusammen mit der Partei Ettakatol Juniorpartner al-Nahdas in der Übergangsregierung, sagte am Sonntag, die Auflösung der Ligen würde eine Verletzung der Menschenrechte und des Gesetzes darstellen.
Der CPR und al-Nahda stehen im Zentrum der Differenzen mit der UGTT. Diese hatte Mitte Oktober zu einem Kongress des nationalen Dialogs aufgerufen, als klar wurde, dass die Verfassung nicht innerhalb der von zwölf Parteien ausgehandelten Frist von einem Jahr ab den Wahlen vom 23. Oktober 2011 fertiggestellt werden würde, und Kritiker den Übergangsinstitutionen einen Legitimationsverlust bescheinigten. Der CPR und al-Nahda hatten diesen Kongress aber boykottiert.
Verschärft wurde die Situation durch einen mehrtägigen Generalstreik in Siliana im vernachlässigten Landesinnern, wo Tausende sich vor drei Wochen Auseinandersetzungen mit der Polizei lieferten, die mit Schrot auf Demonstrierende schoss; mindestens 250 Menschen erlitten Verletzungen. Bei diesem Streik ging es um Forderungen nach einer Verbesserung der sozialen Lage, aber auch um die Absetzung des von al-Nahda eingesetzten, von den Protestierenden als unfähig bezeichneten Gouverneurs, die mittlerweile erfolgte. Auch der Gouverneur der Industriestadt Sfax ist nun im Visier der Gewerkschafter. »Sie haben keine Erfahrung, es sind Aktivisten, sie verursachen Probleme«, sagte Sami Tahri, führendes Mitglied der UGTT, gegenüber Le Monde. »Al-Nahda versucht, als Partei und nicht als Regierung, alle Rädchen des Staats in die Hand zu bekommen, es ist ein – unsichtbarer – Parallelstaat, der nach und nach aufgebaut wird.«
Während die UGTT den Generalstreik vorbereitet, organisieren die Ligen zum Schutz der Revolution Gegendemonstrationen für den gleichen Tag in Tunis, Sfax und Gafsa. Verhandlungen zwischen der Regierung und der UGTT mit dem Ziel, den Generalstreik in letzter Minute abzuwenden, blieben bis Redaktionsschluss ohne Ergebnis.