Beschreiben uns ihr persönliches Schlaraffenland

Die ganze Schlaraffenbande

Die Jungle World fragte Autorinnen und Autoren, wie ihr ganz persönliches Schlaraffenland auszusehen hätte. Hier sind die Ergebnisse.

Der Leckereienfinder
Sie kennen das von früher: Erst einmal musste man Schwärmen von gegrillten Broilern ausweichen, die durch die Luft flogen, bis endlich Steaks und Köfte an die Reihe kamen. Ströme aus Milch und Honig waren zu durchwaten, um an das Pils und die frisch gepressten Fruchtsäfte und an die hübschen kleinen Bäche von Champagner, Grappa und Single Malt zu gelangen. Um die knusprige Mokkapraline, das Parmaschinken-Melone-Canapé, die gegrillten Garnelen mit Knoblauch und den bunten Rohkostsalat zu ergattern, galt es Berge von Schokolade, Schnittchen, Meeresfrüchten und Gemüse aus dem Weg zu räumen. Inzwischen hat sich das Schlaraffenland enorm gemausert.
»Regina, dieses Gericht könnte Sie interessieren: Sauerbraten mit Bandnudeln und Apfelkompott.« Oh ja, mein Schlaraffenland kennt mich, ich bin ja nicht zum ersten Mal hier. Es weiß genau, dass der Cappuccino stark und leicht gezuckert zu sein hat, wann der Tag mit einem pain au chocolat und wann mit einem Englischen Frühstück beginnen muss. »Besucherinnen, die Sauerbraten aßen, mochten auch Kurzgebratenes und Geschmortes vom Dammwild mit Kartoffel-Preiselbeer-Strudel, Rotkohl und Pastinaken.« Der automatische Leckereienfinder ist eine ganz tolle Sache, das probiere ich doch gern. »Möchten Sie sehen, was ihre Freunde gestern gespeist haben?« Selbstverständlich – wie erfährt man sonst vom Ceviche, der einzigen akzeptablen Art, rohen Fisch zu essen, die sogar köstlich schmeckt? Anregungen sind immer willkommen, sogar von Vegetariern. Gefüllte Polenta mit Ofenpaprika, Artischocke und Roter Beete – her damit.
Mir kommt das Schlaraffenland nicht mit »Mandelparfait mit Brotpudding und Zitrus­früchten«, weiß es doch genau, dass ich auf keinen Fall etwas esse, in dem das Wort »Pudding« vorkommt. Fenchel, Kümmel, Anis wurden geblockt, alles Glibberige gelöscht und allerhand Überschätztes deaktiviert. »Weitere interessante Angebote für Sie: Spanische Tapas, Schokoladen- und Obsttörtchen, Eis- und Mousse-Kreationen, Früchte aus aller Welt.« Auf dem kleinen Buffet steht immer genau das Richtige, mundgerecht zubereitet. Herrlich! Abwechselung ist das A und O. Süss und salzig, deftig und leicht, lokal und international, traditionell und innovativ. Nicht zu wenig, nicht zu viel. Hübsch angerichtet und dekoriert, mit den passenden Getränken. Und danach ein Espresso und ein Schnäpschen. »Kennen Sie Barack Palinka?«
Regina Stötzel
Ein Fest für jeden Connaisseur
Meine Seele kann einfach keinen Frieden finden. So viel wäre noch zu lernen, so viele Menschen noch zu treffen gewesen! Und jenseits des Grabes wartet nur jener von einem merkwürdigen roten Flackern erfüllte Lichttunnel … Die Unruhe meines Geistes überträgt sich auf mein fauliges Gerippe. Wenige Tage nach meiner Bestattung (diese unverschämt kleine Trauergemeinde!) löse ich mich aus der muffigen Umarmung von Mutter Erde; angetrieben vom Wissenshunger. Nach Karlsruhe schlurfe ich, zum Prof. Sloterdijk. Ah, der süße Geschmack seiner Thesen! Geschwind knacken meine untoten Hände seinen Schädel – darin, eingelegt in feinstem Rotwein: Blasen, Sphären! Abgeschmeckt mit etwas Zornkapital und Sätzen zur Eugenik, sind Sloterdijks schon etwas mürbe Neuronen ein Fest für jeden Connaisseur! Doch fehlt es etwas an Substanz: zu feuilletonistisch, zu luftig ist das, was meine Zähne von seinen Gedanken übriglassen; und so bleibt der Spitzendenker nur hors d’oeuvre. In Berlin-Zehlendorf wartet die eigentliche Vorspeise: Jakob Augstein. Sein Gehirn ist natürlich ungenießbar, bloßes Viehfutter. Aber sein Rückgrat! Butterweich, zart und kaum benutzt, schwimmt es seit Jahrzehnten in der Milch der hohlen Denkungsart. Aus dem falben Walserkörper herauspellen und dann die Wirbel ausschlürfen wie Austern! Der Hauptgang ist Roger Willemsen. Was hat der Mann nicht alles gesehen auf seinen Reisen, wie viele Bücher hat er gelesen, wie viele Fernsehspiele verbrochen! Sein riesiger, fein geäderter, stark muskulierter Sehnerv wird fachmännisch freigelegt, wie Hummerfleisch. Millionen von Bildinformationen blubbern darin wie feinster Crémant – Nervennahrung pur! Bevor die Zombiejäger kommen, humpele ich zu Hellmuth Karasek: Sein nahezu funktionsloses Hirn besteht fast nur noch aus Fett, tropft sahnig vom Finger wie weicher Camembert. Endlich trifft mich der Bannstrahl des Exorzisten! Doch fahre ich satt und zufrieden zur Hölle – in dem Wissen, die größten Denker unserer Zeit geradezu verschlungen zu haben.
Leo Fischer
Meine fettige Phantasie
Keyword: Schlaraffenland. Ist das nicht bloß eine atheistisch hedonistische Version des Gartens Eden? Na, funktioniert an dieser Stelle aber ganz gut als unauffällige Hintertür, um auch als Linker was von der bürgerlich-religiösen Heimeligkeit der Festtage abzukriegen. Jesus und so. Und Kerzen und die Geschenke. Und guck mal, Genosse, geschneit hat es auch. Na, dann macht es ja nichts mehr, wenn man sich auch noch beim großen Weihnachtsessen mit einklinkt.
Himmel, wie ich diese kultische Fresserei und das damit verbundene, ewige Rumgesitze hasse!
Wäre ich zudem so hellsichtig wie mein Freund, der Popmusiker Jens Friebe, könnte ich den ganzen Mist sicherlich mit leichter Feder auch noch als proto-faschistisch outen. Bin ich leider nicht, daher muss ich mich – wie immer – mit einer dumpfen Ahnung zufrieden geben.
Allerdings ist auch nichts schlimmer als thematisch verpasste Beiträge im Weihnachtsfeiertagespezial einer christlichen Wochenzeitung. Insofern will ich natürlich abliefern, wie mir geheißen. Nun gut, meine fettige Phantasie besteht aus: Kartoffelpüree, Sauerkraut, veganen Bratwürstchen, Schaumwein, Heroin, Hefeschmelz, Chips, Zungenkuss, Marzipan … ach, ich kann das einfach nicht.
Das sei dabei aber bitte als meine private Gelage-Aversion gelesen. Nicht dass der arme Veganismus, dem ich anhänge, dafür wieder haften muss – während das ganze Pack um einen rum, das hier garantiert bereits in seinen Scheiß-Braten-Rezepten schwelgt, sich wieder bestätigt fühlt: »Fleischfrei …  wie lustfeindlich das ist – also ich könnt’ das nicht!«, »Gell? Und haste das gehört mit Kim von Vegan-Oi!-Wonderland?« »Klar, habe auch schon achtzehn Kommentare auf Facebook dazu geschrieben, wie niederträchtig und hitlermäßig Fleischverzicht ist! Mein Schnitzel auf dem Teller ist strammer Anti-Faschismus.« Also in meinem persönlichen Feiertagsschlaraffenland geht es unbedingt geiler zu als in solchen Zusammenhängen. Nur – so ehrlich muss man sein – zu essen gibt’s halt nicht so viel.
Linus Volkmann
Die schöne, fast perfekte Welt
Kein Mensch braucht Milch und Honig. Deutschland muss zu einer Oase der Stille und einem Bollwerk der geistigen Hygiene werden. Das Internet wird abgeschaltet. Alle Talkshows, Privatradiosender, Mobiltelefone, deutschen Comedyserien, Werbeagenturen, Nachrichtenmagazine und Richard David Precht werden verboten. Die so freigewordenen Gebäude (Redaktionen, Funkhäuser, Büroetagen, Konzernfilialen etc.) werden zu Bibliotheken umgebaut, in welchen ausschließlich die Werke von Karl Kraus auszuleihen sind. Auf sämtlichen öffentlich-rechtlichen Sendestationen werden rund um die Uhr von schwarz gekleideten Sprecherinnen und Sprechern, die in schwarzen großen Studios sitzen, Kraus’ Werke vorgelesen.
An allen öffentlichen Plätzen und Straßenkreuzungen wird jeweils eine überdimensionale Tafel aus rostfreiem Edelstahl angebracht, auf der in gigantischen Lettern folgendes Zitat geschrieben steht: »Die Welt ist ein Gefängnis, in dem Einzelhaft vorzuziehen ist.«
Sämtliche Hunde und andere bellende oder sonstwie lärmende vierbeinige Scheißebehälter werden fachgerecht zu Katzenfutter, Bibliotheksregalen und Karl-Kraus-Gesamtausgaben verarbeitet. Volkshochschulen und Universitäten werden neben Karl-Kraus-Lektüreseminaren ausschließlich sogenannte Schweigekurse anbieten, in denen die Bevölkerung zu lernen hat, wie es einem gelingt, länger als drei Minuten den Mund zu halten. Der tägliche Besuch dieser Seminare und Kurse ist für die gesamte Bevölkerung verpflichtend – und zwar, damit hier keine Missverständnisse aufkommen: vom Säugling bis zum Greis. Wer schwänzt, wird dazu zwangsverpflichtet, in eigens zu diesem Zweck leer geräumten unterirdischen Katakomben, Kellergewölben und stillgelegten U-Bahn-Tunneln bei schwachem Kerzenschein vergilbte und zerfledderte Karl-Kraus-Gesamtausgaben fein säuberlich wieder zusammenzuleimen.
Niemand wird mehr in einem öffentlichen Verkehrsmittel brüllen, brabbeln oder Sätze sprechen wie »Hallo Schatz, ich bin gerade in der Fußgängerzone«. Wer Worte wie »Zeitfenster«, »total super«, »nachhaltig« oder »Alleinstellungsmerkmal« in den Mund nimmt oder heimlich Druckerzeugnisse von Ildiko von Kürthy bei sich zu Hause versteckt, muss zur Strafe 20 Einmachgläser Spreewälder Gurken vertilgen und das Gesamtwerk von Karl Kraus auswendig lernen. Es wird eine schöne, ja, eine nahezu perfekte Welt sein, besser als jedes Schlaraffenland.
Thomas Blum