Ein Nachruf auf Manfred Amerell

Beim Abpfiff ganz alleine

Der frühere Bundesliga-Referee und Schiedsrichtersprecher Manfred Amerell ist tot. Ein Nachruf

Dass ein Sportler nach dem Ende seiner aktiven Laufbahn zum Funktionär wird, ist nichts Außergewöhnliches. Der umgekehrte Fall dagegen kommt längst nicht so oft vor – wann ist einem Funktionär schließlich schon mal eine Karriere als Sportler vergönnt? Manfred Amerell allerdings war ein Vertreter dieser seltenen Spezies. 1970 wurde der Münchner, gerade einmal 23jährig, Geschäftsführer des TSV 1860, die gleiche Funktion übernahm er fünf Jahre später beim FC Augsburg und von 1979 bis 1984 schließlich beim Karlsruher SC. Seine gleichzeitige Aktivität als Schiedsrichter im Jugend- und Amateurbereich war eigentlich nur eine Freizeitbeschäftigung – die jedoch erledigte er so gut, dass ihn der Deutsche Fußball-Bund (DFB) im Jahr 1984 für die Zweite Bundesliga nominierte. 1987 stieg Amerell dann sogar in die deutsche Eliteklasse auf, wo er bei der Partie Borussia Mönchengladbach gegen den VfL Bochum mit 40 Jahren eine späte Premiere feierte. Ein Reporter wollte damals von ihm wissen, wie um alles in der Welt man dazu komme, eine gut bezahlte Tätigkeit bei einem Profiverein gegen 72 Mark Tagesspesen pro Spiel als Unparteiischer und die Rückkehr in den erlernten Beruf als Hotelier einzutauschen. Die Antwort: »Ich suche die größte Herausforderung. Ich will ganz oben dabei sein.«
Sieben Jahre lang war Manfred Amerell ganz oben dabei. Er leitete 66 Erstligaspiele und als Karrierehöhepunkt das DFB-Pokalfinale 1994, dann hatte er die Altersgrenze erreicht. Bei den Clubs und ihren Spielern war er gleichermaßen gefürchtet wie geachtet, denn wenn der autoritäre Amerell der Ansicht war, durchgreifen zu müssen, dann konnte es zu einer Flut von gelben und roten Karten kommen, was ihm bald den Spitznamen »Aquarell« eintrug. »Rigoros« fand ihn der ehemalige Fifa-Schiedsrichter Bernd Hey­nemann, »alle wussten, wie streng er ist, sowohl die Spieler als auch die Trainer«, sagt Hans Tilkowski, der frühere Nationaltorwart, der während Amerells Zeit beim TSV 1860 München zwei Jahre lang als Trainer tätig war. Nie sei Manfred Amerell »von seinen Auffassungen von Recht und Fairness abgewichen«, fügt Tilkowski hinzu – und dieser Satz darf in mancherlei Hinsicht auch für Amerells Tätigkeit nach seiner Karriere als Schiedsrichter Gültigkeit beanspruchen.
Denn nun begann der Vater von zwei Töchtern erneut als Funktionär zu wirken, allerdings nicht mehr bei Proficlubs, sondern im Schiedsrichterwesen des DFB. Dort war es bis dahin üblich gewesen, sich nur höchst selten in der Öffentlichkeit zu äußern; die Referees und ihre Vorgesetzten gaben sich stets wortkarg, verschlossen und unnahbar. Ein Verhalten, das in der sich rasant erweiternden Medienlandschaft und angesichts der fortschreitenden Vermarktung und Popularisierung des Fußballs einfach nicht mehr zeitgemäß war – und dessen Wandlung Manfred Amerell mit markigen öffentlichen Auftritten entscheidend prägte. Mal forderte er in Talkshows forsch das Verbot der Zeitlupe, mal wetterte er in Interviews über den fehlenden Respekt der Spieler oder die seiner Ansicht nach allzu aufgeregten Trainer: »Diesen Heuchlern auf der Bank sage ich auf gut Bayerisch: Wie der Herr, so das G’scherr. Diese Rasenden auf und neben den Bänken sind das Vorbild für Randgruppentäter auf den Rängen. Dieser Saustall gehört aufgeräumt.« Im Tagesspiegel bekam er sogar eine eigene Kolumne, in der er strittige Schiedsrich­terentscheidungen erläuterte.
Nun hatten die Unparteiischen also einen, der sich in der Öffentlichkeit eloquent und engagiert für sie einsetzte. Verbandsintern jedoch vertrat Manfred Amerell bisweilen recht zweifelhafte Auffassungen von Recht und Fairness. Über die Einteilung und Beobachtung von Schiedsrichtern beispielsweise hatte er die Möglichkeit, den sportlichen Werdegang von DFB-Referees und damit deren (mittlerweile deutlich gestiegene) Verdienstmöglichkeiten entscheidend zu steuern, konnte sie also besonders fördern oder in der Bedeutungslosigkeit verschwinden lassen. Die Kriterien dafür waren allerdings nur wenig transparent – was der Schiedsrichterausschuss billigte und den DFB nicht weiter scherte. So bekamen einzelne Referees zwar die Punktzahlen aus ihren von Amerell vorgenommenen Beurteilungen mitgeteilt, nicht jedoch die obligatorische schriftliche Begründung für deren Zustandekommen. Ein Widerspruch dagegen war allenfalls theoretisch möglich und barg zudem nachweislich die Gefahr künftiger Nachteile.
Anderen wiederum ließ Amerell ganz besondere Aufmerksamkeit zukommen, allen voran Michael Kempter, der 2006 mit gerade einmal 23 Jahren zum jüngsten Bundesligaschiedsrichter aller Zeiten wurde und ohne Amerells außergewöhnlich starke Protektion kaum in einem derart atemberaubenden Tempo in der höchsten deutschen Spielklasse gelandet wäre. Eine Protektion, die längst nicht nur sportliche Gründe hatte, wie die Öffentlichkeit im Februar 2010 erfahren sollte: Kempter war die Fürsorge zu weit gegangen. Er fühlte sich von Amerell sexuell belästigt und meldete dies dem DFB. Amerell wiederum sprach von einer einvernehmlichen Beziehung und versuchte das durch Mails und SMS-Nachrichten von Kempter nachzuweisen, trat gleichwohl jedoch von seinem Posten im DFB-Schiedsrichterausschuss zurück. Der DFB und sein damaliger Präsident Theo Zwanziger schlugen sich eilends auf Kempters Seite und sprachen Amerell wegen dessen Beziehung mit dem Schiedsrichter der Amtspflichtverletzung schuldig, ohne den Beschuldigten ein einziges Mal angehört zu haben.
Es kam schließlich zu einer ganzen Reihe von Gerichtsprozessen – Amerell gegen Kempter, Kempter gegen Amerell, Amerell gegen den DFB, der DFB gegen Amerell –, die teilweise immer noch nicht abgeschlossen sind. Vom Vorwurf der sexuellen Nötigung wurde Manfred Amerell mangels Beweisen freigesprochen; mit Michael Kempter einigte er sich nach zähem Ringen auf einen zivilrechtlichen Vergleich. Beim Versuch, auf juristischem Weg seinen Ruf zu retten, habe er zeitweise »wie ein Besessener auf Rachefeldzug« gewirkt, urteilte die FAZ. Doch es war nicht nur sein unrettbar beschädigter Ruf, der Amerell umtrieb, es war auch und vor allem der Machtverlust, der sich nicht kompensieren ließ. Jahrelang hatte Manfred Amerell ein System von Zuckerbrot und Peitsche, von Abhängigkeit und Willkür mitgetragen und -geprägt; schließlich fiel er ihm selbst zum Opfer. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass er dabei unter dem Fehlen jener demokratischen Selbstverständlichkeiten im DFB litt, die er selbst nicht gewähren mochte.
»Seit dem 1. Februar 2010 lebe ich nicht mehr, ich existiere nur noch«, sagte Amerell im April dieses Jahres, als er auf die Auseinandersetzung mit Michael Kempter zurückblickte. »Meine Lebensqualität geht gegen null. Und das ist bis zum Tod nicht mehr zu korrigieren, das nimmt man mit ins Grab.« Am 11. Dezember wurde Amerells bereits stark verweste Leiche in seiner Münchner Wohnung aufgefunden. Die Obduktion ergab, dass der 65jährige bereits mehrere Tage zuvor an einem Herzinfarkt verstorben war. Um den früheren Sprecher von rund 80 000 deutschen Schiedsrichtern war es zuletzt einsam geworden.