Die neue Platte von Jandek

Das Phantom

Der Musiker Jandek ist eine der sonderbarsten Gestalten der Popmusik. Vor kurzem hat er eine weitere Platte veröffentlicht. Seine ungefähr zweiundfünfzigste.

Wer zur Hölle ist Jandek? Seit 1978 hat der Mensch hinter diesem Pseudonym über 70 Alben veröffentlicht, zählt Musikerkollegen wie Sonic Youth, Will Oldham, Calvin Johnson, Bright Eyes, The Mountain Goats, Yo La Tengo und Low zu seinen Fans, und das Magazin Spin nannte ihn 1990 einen der zehn wichtigsten Musiker der vergangenen fünf Jahre – neben Madonna und Prince. Aber kennen tut ihn eigentlich niemand. Jandek war der mit Abstand am wenigsten Bekannte in der Liste von Spin und daran hat sich seit 1990 nicht viel geändert. Songstrukturen zerstörende, mit Tra­ditionen brechende Musik hat es beim Massenpublikum naturgemäß schwer. Hinzu kommt Jandeks Verweigerung gegenüber der Außenwelt – Jandek gibt keine Interviews, er spielt selten live, und seine Biographie liegt im Dunkeln. Ähnlich wie bei Thomas Pynchon, der immer wieder als Vergleich in den spärlichen Artikeln über Jandek herhalten muss, haben die fehlenden Informationen über die Jahre zahlreiche Gerüchte um den Menschen mit dieser seltsamen Musik entstehen lassen. Mal ist die Jandek-Musik die Therapie eines Psychiatrieinsassen, mal das Projekt eines Vinylpresswerk-Mitarbeiters in Texas oder auch ein geheimes Seitenprojekt von Thurston Moore.
Und gerade zu dem Zeitpunkt, als das Rätsel Jandek am stärksten mythisiert wurde, als sich Fanzirkel mit der Entschlüsselung seiner Texte und Plattencover beschäftigten und mit »Jandek on Corwood« (2003) sogar ein Film über die Suche nach Spuren des Künstler in die Kinos kam, die große Sensation: Jandek trat plötzlich vors Publikum, als sei nichts dabei. Nach 40 aus der Anonymität heraus produzierten Alben stand der Mann unangekündigt beim »Instal-Festival« 2004 in Glasgow auf der Bühne und vermied dort jeden Blickkontakt mit dem Publikum: die große Verweigerung, diesmal allerdings öffentlich! Seitdem spielt Jandek immer mal wieder live, mal alleine, mal mit Kollegen wie John Mc­Entire von Tortoise, Sam Coomes von Quasi oder eben Thurston Moore – womit das Gerücht, Thurston Moore sei Jandek, wohl widerlegt ist.
Aber vielleicht beginnt man besser mit dem Anfang. 1978 erschien das Album »Ready for the House«, noch unter dem Bandnamen The Units, beim Label Corwood Industries und niemand bekam es mit. Der erste Song »Naked in the Afternoon« beginnt mit einer unmotiviert gespielten und verstimmen Gitarre, dann setzt eine ebenso verstimmte Stimme ein: »I got a vision, a teenage daughter / Who’s growing up naked in the afternoon / I know a brother close to his mother / Who stays out late in the evening time / I keep repeating, it takes a beating / To grow up naked in the afternoon / You are a cowboy if you wear those boots«. So klang der Anfang einer in der Musikgeschichte wahrscheinlich einzigartigen Karriere: »I got a vision«. Noch wichtiger vielleicht der Satz »I keep repeating«, denn seitdem nahm Jandek eine LP nach der anderen auf, die bis weit in die achtziger Jahre alle ähnlich unverkäuflich das Lager von Corwood Industries füllten: Bis Ende der Acht­ziger konnte man direkt beim Label 25 LP nach freier Wahl für 75 Dollar bestellen. Den Output an Tonträgern hat Jandek zwar beibehalten, wenn nicht sogar noch erhöht, da eine große Zahl seiner Live-Auftritte aufgenommen und veröffentlicht wurden, doch scheinen sich die Alben mittlerweile etwas besser zu verkaufen.
Mit dem Label ist ein weiteres der vielen Rätsel um Jandek verbunden. Die auf jeder Albumrückseite abgedruckte Label-Adresse lautet: Corwood Industries, P.O. Box 15375, Houston, TX, 77220. Schreibt man an diese Adresse, erhält man eine Antwort von Sterling R. Smith, einem Repräsentanten von Corwood Industries. Vor dem »Outing« Jandeks 2004 gaben die wenigen Menschen, die am Telefon mit Smith gesprochen haben, an, seine Stimme ähnele jener auf den Alben Jandeks. Scheinbar also waren Corwood Industries, Sterling R. Smith und Jandek identisch. Oder handelte es sich um ein Spiel mit Identitäten, den Versuch einer Trennung von Künstler-Ego und Marktsubjekt? Ein postmodernes Experiment? Oder waren alle drei am Ende doch Thurston Moore?
Die Cover-Ästhetik der Alben Jandeks ist ebenso Ausdruck eines konsequent durchgehaltenen Konzepts des Künstlers. Seit dem ersten Album 1978 zieren die Cover auf der Vorderseite mehr oder weniger verschwommene Fotos von Details aus Wohnräumen oder der immer gleichen Person. Auf dem Backcover folgt in stets identischem Layout der Schriftzug »Jandek« und der Albumtitel, darunter die nummerierten Song­titel mit sekundengenauen Längenangaben. Der verschwommene Mensch auf den Covern der Jandek-Alben scheint tatsächlich der Musiker zu sein, wie seit 2004 durch die Live-Auftritte bewiesen ist, wenngleich sich auch noch immer Theorien halten, der Mensch auf der Bühne sei vielleicht lediglich ein »Repräsentant« Jandeks oder Corwood Industries.
Jandeks musikalisches Konzept bricht mit allen Erwartungen an einen Singer-Songwriter, vorgebracht mit einer selten gehörten Konsequenz. Keine Strukturen, kein Rhythmus, das Mäandern ins Nirgendwo: Jandek spielt Folk – ohne sich wie der klassische Folk an die »Folks«, die Menschen, zu richten –, und gespenstischen Blues, zu dem er Texte von Tod, Krankheit und Gott in seinem mehr gemurmelten als gesungenen Stil vorträgt: »Oh Lord, help me to understand what’s going on in this world.« Jandek spielt Gitarre, manchmal auch Klavier, hat Alben im Alleingang aufgenommen, reine Vokalalben, andere mit Gastmusikern, denen er viel Raum zum Experimentieren lässt. Die verrätselten Texte erinnern mal an Kindergebete, pubertäre Liebesgedichte, dann jedoch wieder an hochartifizielle hermetische Lyrik oder dadaistische Poesie. Die in den Songtexten entworfene Welt entsteht hauptsächlich aus gegenseitigen Bezügen: Songtitel verweisen auf andere Songs, viele Themen tauchen im Verlauf der über drei Jahrzehnte musikalischen Schaffens in immer neuen Kontexten wieder auf, die Coverfotos verweisen aufeinander, ebenso wie Songs immer wieder neu interpretiert werden.
Auf »Maze of the Phantom«, seinem jüngsten, circa zweiundfünfzigsten regulären Album – die unzähligen Livealben einmal beiseite gelassen – ist wieder alles anders: Was sich bereits beim Album »Where Do You Go From Here?« aus dem Jahr 2011 andeutete, ist hier konsequent weitergedacht. Jandek bricht mit den ohnehin gebrochenen Blues- und Folk-Variationen und liefert ein experimentelles Elektroakustik-(Free-)Jazz-Album ab, das in seinen besten Momenten an Alice Coltrane in Höchstform erinnert. Harfen und wortloser Frauengesang hallen zu elektronischen Sounds, hin und wieder tauchen aus dem Nichts eine Gitarre oder ein Cello auf, gar nichts erinnert mehr an die Anfänge Jandeks als Singer-Songwriter, an die Selbstbezüglichkeit des Textuniversums oder die Experimente mit Funk-Elementen der Nullerjahre. Jandek hat schon wieder eine neue Welt erfunden, die in ihrer Versponnenheit so spannend klingt wie lange keines seiner Alben mehr. Doch was fängt man damit an, dass Jandek nun die afroamerikanische Jazz-Geschichte an ihren experimentellen Rändern besucht? Dass er nun mit seiner musikalischen Vergangenheit bricht, dass er Motivketten in seinen Texten miteinander verwebt, bis ihr Sinngehalt in der gleichen Leere verschwindet, in die auch seine mäandernden Songs sich oft verlieren?
Vielleicht ist der Vergleich mit Thomas Pynchon doch gar nicht so abwegig, schließlich greift auch Pynchon Stoffe und Motive der amerikanischen und westeuropäischen Moderne auf, um sie in irrwitzigen Verknüpfungen ins Absurde kippen zu lassen. In diesen Irrwegen erweist sich Jandek als einer der interessantesten Unbekannten der Musikgeschichte. Vielleicht ist er doch ein Kunstprojekt von Thurston Moore? Wahrscheinlicher jedoch ein noch zu entdeckendes Gesamtkunstwerk, für das man Geduld braucht, das manchmal an den Nerven zehrt, das aber vor allem auch gehört werden will: »Do you want me?« hält er im ersten Song seines 38. Albums »The Door Behind« dem Hörer entgegen: »Well, do you want me? / Here I am«.

Jandek: Maze of the Phantom (Corwood Industries)