Die Kannibalen: Realität und Fiktion

Essen und gegessen werden

Das Feindbild des Kannibalen lebt auch ohne Kolonialismus weiter. Über kolo­nialistische Urbilder, Realität und Fiktion im Umgang mit dem »Fremden«.

»›Die Herrschaft der Deutschen ist vorbei, jetzt geht das alte Leben wieder an!‹ Die wilde Freiheitsliebe und Blutgier von einst flammte unter den alten Kannibalen erneut auf, obwohl alle ihre bisherigen Aufstände blutig niedergeschlagen worden waren.« Dieses Zitat aus dem NS-Roman »Trommeln rufen durch Kamerun« von 1940 zeigt, wie auch der »Kolonialismus ohne Kolonien« noch das Feindbild des Kannibalen als Rechtfertigung für koloniale Unterwerfung benutzte. Dieses Thema sagte schon immer mehr über diejenigen aus, die unbedingt Kannibalen entdecken wollten, als über die vermeintlichen Kannibalen selbst. Um die Wende zum 20. Jahrhundert überschwemmte eine Flut von Reiseberichten den exotistischen Büchermarkt, die die »Kannibalen« im Titel führten – diese jedoch leider immer knapp verpasst hatten. »Unter den Kannibalen auf Borneo« (1882), »Bei kunstsinnigen Kannibalen der Südsee« (1916), »Vier Jahre unter Kannibalen« (1920), um nur einige der Titel zu nennen. Zahlreich sind die Schilderungen noch warmer Feuerstellen und angeblicher Menschenknochen, umfangreich sind die referierten Gerüchte und Mythen, die die Existenz des ewig entschwindenden Objekts des Begehrens belegen sollten.

Der Kannibale ist das kolonialistische Urbild schlechthin. Die Kolonialherrschaft konkurrierte in Sachen Brutalität mit dem fiktionalen Kannibalismus – jenseits der Fiktion war sie auf diesem Gebiet konkurrenzlos. Im eingangs erwähnten Zitat ist es deutlich formuliert: Die Kolonialisierten mussten so »blutig niedergeschlagen« werden, wie ihre kannibalische »Blutgier« es verlangte. Der Kannibale wurde zur »geheimen Natur« des Kolonisierten stilisiert, die die unterworfenen Kulturen fremd und unheimlich machte. Der Kannibale wurde zur Figur des biopolitischen Risikos, dementsprechend schnell konnten Kolonialkriege zu Genoziden werden, wie der Krieg gegen die Herero und Nama im heutigen Namibia, damals »Deutsch-Südwestafrika« genannt, 1904 bis 1908. Als Staatsangehörige ohne Bürgerrechte waren die Kolonisierten im Konfliktfall die schwer zu kontrollieren, inneren Feinde, die mit einer irregulären, durch keinerlei Gesetze beschränkten Kriegsführung niedergemacht wurden. Noch stärker treten die Merkmale des inneren Feindes bei einem nahen Verwandten des Kannibalen hervor, dem »Blutsauger«. Während der Kannibale noch ein Wesen aus Fleisch und Blut ist, saugt der gespenstische Vampir als unsichtbarer Parasit an der Lebensader seines Wirts. Nicht zufällig war und ist die Figur des Blutsaugers so populär im antisemitischen Diskurs.
Der Kannibalismus war auch in Europa präsent, wie nicht nur die kannibalische Hexe der Grimmschen Märchen zeigt. Während sich der kolonialistische Diskurs über den Kannibalismus entwickelte, betrat der »Kannibale« der westlichen Metropole das Rampenlicht: der Serienmörder. Er ist gewissermaßen die Blackbox zwischen dem kolonialen Kannibalen und der Utopie (oder Dystopie) des westlichen »Normalbürgers«, denn er versammelt alle Bausteine der kolonialen Stereotype zu einem grotesken Bild. Er ist zugleich »primitive Bestie« und Vertreter einer »pervertierten, entarteten Zivilisation« und gleichzeitig wird er als hyperintelligenter Connaisseur stilisiert (man denke etwa an Hannibal Lecter).
Spätestens mit dem von der Presse als »Vampir von Hannover« betitelten Fritz Haarmann wurde 1925 ein deutscher Jack the Ripper in der ganzen Welt bekannt. Bei den modernen angeblichen Kannibalen ist es wiederum nicht entscheidend, ob tatsächlich anthropophagische Praktiken ausgeführt wurden. Der im Juni in Berlin-Neukölln gefasste Eric Clinton Newman, aka Luka Magnotta, wurde von der Bild zum »Porno-Kannibalen« erklärt, obwohl die kanadische Polizei bisher widersprüchliche Angaben darüber gemacht hat, ob der mutmaßliche Mörder auch Teile des Körpers seines Liebhabers gegessen hatte.
Kannibalismus ist das wirkungsmächtigste Bild einer sadistischen »Lust am Leid«. Serienmörder sind zwar meist Einzelgänger und treten in allen Epochen auf, sie finden aber auch Nischen in gesellschaftlichen Ausnahmesituationen. Relativ offen können sie agieren, wenn sie von staatlichen Institutionen wie der Armee oder Polizei geschützt werden. So beispielsweise der »Padrino« von Matamoros (Mexiko), der US-Amerikaner Adolfo Constanzo, ein von der Polizei protegierter Sektenguru und Drogenbaron, der in den achtziger Jahren rituell Menschenteile verspeist haben soll. Auch Haarmann war aufgrund seiner Tätigkeit lange als Polizeispitzel nicht aufgeflogen.

Wie auf die »Kannibalen« richtet sich auch auf die sadistischen Delinquenten ein alles verschlingendes, nachgerade kannibalisches öffentliches Interesse. Zu jedem Serienmörder gibt es nicht nur unzählige Medienberichte, sondern auch mindestens einen Film sowie eine Unzahl von Death-Metal-Songs. Das Interesse richtet sich aber speziell auch auf die Körper der Kannibalen, die ja als die heimlichen Urheber der Taten ausgemacht werden. Die Herero und Nama blieben von solcher Kannibalisierung nicht verschont. »Die Schädel, die von Herero-Frauen mittels Glasscherben vom Fleisch befreit und versandfertig gemacht werden, stammen von gehängten oder gefallenen Hereros«, heißt es im Bericht eines deutschkolonialen »Schutztrupplers«. Das Wort des Ethnologen Claude Lévi-Strauss vom »pseudowissenschaftlichen Kannibalismus, der sich wenig um die Integrität der Kulturen kümmert«, den Anderen durch Zergliederung zum Fremden macht, bekommt hier eine sehr viel unheimlichere Bedeutung. Ähnliches gilt für die Serienmörder. Derzeit diskutiert man an der Universität Göttingen, ob Haarmanns Kopf, der nach der Hinrichtung in Formalin eingelegt wurde, ausgestellt werden soll.
Mit der noch andauernden Dekolonisierung kehrt der Kannibale dorthin zurück, woher er kam: in die Phantastik. Er wird fiktiv wie der Vampir, und zwar als kannibalischer Untoter, als Zombie. Dessen Ursprung liegt in der ersten Nation ehemaliger Sklaven, Haiti. In der haitianischen Religion ist der Zombie ein sozial Toter, der aus seiner Gemeinschaft verbannt wird – eine Figur, die den sozialen Tod der Sklaven reflektiert. 1968 löste George A. Romeros Film »Night of the Living Dead« den Zombie von seinem kolonialen Ursprung. Romero treibt die Ambivalenz dieser Figur auf die Spitze – gerade auch im Gegensatz zu vielen Zombiefilmen seit der Jahrtausendwende, wie etwa »28 Days Later«, die die kulturkonservative Angst vor der Masse beschwören. So ist der Zombie für Romero nicht nur der notwendige Agent des Schreckens, sondern auch ein Repräsentant des unregierbaren, eigensinnigen Untertanen. Romeros Sympathie für seine Zombies zeigt sich auch in »Land of the Dead« von 2005, wo die lebenden Leichen sich bewaffnen und revoltieren.
Die ambivalente Kannibalenromantik beneidete die Kolonialisierten heimlich um jene »Natürlichkeit«, die die Zivilisatoren vermissten. Die Figur des Zombies funktioniert anders, zumindest bei Romero. Sie macht das »Andere« erkennbar als etwas Eigenes im Medium des Fremden, als etwas Vertrautes in der »geheime(n) Natur des Unheimlichen« (Sigmund Freud). Statt wie in (post)kolonialen Diskursen politische und kulturelle Differenzen in ein geographisches Schema zu nötigen, irritiert der Zombie diese Stimmigkeit. Die orale Einverleibung, die die Zombies ziemlich wahllos praktizieren, ironisiert den westlichen Zugang zur Figur des Anderen. Waren es zunächst Kolonialwaren wie Schokolade und Kaffee, deren Farbe mit der Hautfarbe der Kolonialisierten in Verbindung gebracht wurde, so wird bis heute das Fremde, wenn überhaupt, am ehesten auf kulinarischem Wege integriert. Schließlich entlarvt der Zombie den paranoischen Abgrund der biopolitischen Risikoverwaltung: Jeder kann zum Zombie werden, damit ist jeder ein heimlicher Feind. Dieses Setting hat für biopolitische Sicherheitskonzepte die Realität eines worst case scenario. Angesichts dessen kommt der Bevölkerung immer schon die gespenstische Existenz von potentiell sozial Toten, von Zombies zu.