Alena Thiem und Yvonne Franck im Gespräch über Essstörungen und Feminismus

»Essen wird als Feind wahrgenommen«

Wie viel Hunger darf ich haben? Wie kaum eine andere gehört diese Frage zur weiblichen Sozialisation, zumindest am Esstisch. Über Schönheitsideale, weiblichen Körperhass und Essstörungen im neoliberalen Kapitalismus sprach die Jungle World mit Yvonne Franck (r.) und Alena Thiem (l.) von der Initiative AnyBody Deutschland, die sich »für mehr körperliche Vielfalt in Medien und Gesellschaft« einsetzt. Die Initiative ist Teil des Internationalen Netzwerks »Endangered Bodies«, welches die Körpernormierung nach den herrschenden Schlankheits- und Weiblichkeitsidealen kritisiert und bei jungen Frauen ein »positives« Körperbild stärken will (endangeredbodies.org).

Der weibliche Hunger war schon immer ein Tabu, das auch drei Wellen des Feminismus nicht brechen konnten. Haben Frauen es noch nicht geschafft, sich das Recht auf ein zweites Stück Kuchen zu erkämpfen?
Yvonne Franck: Die weibliche Zurückhaltung beim Essen hat schon immer damit zu tun gehabt, wie viel Platz Frauen in der Gesellschaft einnehmen. Das mag in verschiedenen Epochen unterschiedliche Ausformungen angenommen haben, aber Essen, Schönheit und Sexualität waren immer miteinander verknüpft. Generationen von Frauen sind dazu erzogen worden, sich das zweite Stück Kuchen nicht zu nehmen und auch noch stolz auf ihren Verzicht zu sein.
Ist es vielleicht nicht so, dass dieses Thema im Feminismus immer ein Tabu war? Wer dem patriarchalen Frauenbild den Kampf ansagt, darf doch nicht mit dem eigenen Körper unzufrieden sein, geschweige denn Kalorien zählen oder Diät halten …
Alena Thiem: Es ist sicherlich ein Thema, das vom Feminismus vernachlässigt wurde. Aber es gibt Ausnahmen: Susie Orbach hat schon Ende der siebziger Jahren das weibliche Essverhalten und vor allem Essstörungen im Zusammenhang mit der Darstellung des weiblichen Körpers im patriarchalen Kapitalismus gestellt. Heute widmen sich junge Feministinnen diesem Thema erneut, natürlich in einem stark veränderten Kontext. Laurie Penny beschreibt etwa den heutigen Diät- und Schlankheitswahn als einen Mechanismus der spätkapitalitischen Gesellschaft, die Körper der Frauen zu entfremden und zu kontrollieren. Frauen auf ihr Äußeres zu reduzieren, heißt, sie zu entmachten.
Sie haben die feministische Therapeutin Susie Orbach und die junge Feministin Laurie Penny erwähnt. In ihrem Buch »Fat is a Feminist Issue« bezeichnete Orbach bereits 1979 Ess- und übrigens auch Magersucht als »Deformierung des eigenen Körpers« durch die »Manipulation von Hungergefühlen« und nannte die beiden Störungen eine Reaktion gegen die Objektivierung von Frauenkörpern. Mehr als 30 Jahre später benutzt Laurie Penny in ihrem Buch »Meat Market« dieselben Begriffe, um zu beschreiben, wie Frauen die »Furcht vor ihrem eigenen Fleisch verinnerlicht« hätten. Warum bleibt Fett nach wie vor ein feministisches Thema?
Alena Thiem: Heute leben wir, verglichen mit den siebziger Jahren, in einer anderen medialen Welt. Wir werden nicht nur mit anderen Bildern konfrontiert, sondern wir sind auch, allein durch das Web, den Bildern aus den Hochglanzmagazinen, der Film- und Schönheitsindustrie permanent ausgesetzt. Der Kampf ist auch deshalb härter geworden, weil sich die Position von Frauen in der Gesellschaft verändert hat, Frauen haben gesellschaftlich immer mehr Raum eingenommen. Trotzdem, bei all dem was sie erreicht haben, ob sie erfolgreich im Job, in der Politik oder im Sport sind, werden sie immer in erster Linie daran gemessen, ob sie bei all diesen Tätigkeiten »gut« aussehen und begehrenswert sind. Jedes Mal, wenn bei einem Geschäftsmeeting Kommentare über das Outfit einer teilnehmenden Frauen fallen, ist man damit konfrontiert, dass das Patriarchat nicht überwunden ist. In Bezug auf das Verhältnis von Frauen zu ihren Körpern arbeitet es mit der neoliberalen Ideologie wunderbar zusammen. Denn ständig wird propagiert: Verändere deinen Köper, behebe seine Fehler, mach ihn »schön« und wenn du es nicht schaffst, hast du versagt.
Ihre Initiative gehört zum internationalen Netzwerk »Endangered Bodies«. Welche Körper begreifen Sie als »gefährdet«?
Yvonne Franck: Wir begreifen nicht bestimmte Körperformen, sondern die Vielfalt der Körper als gefährdet. In der Öffentlichkeit wird eine bestimmte Körperform repräsentiert und als »schön« deklariert. Alle anderen tauchen nicht mehr auf, sie verschwinden einfach aus der öffentlichen Wahrnehmung und das betrifft nicht nur Menschen, die mehr Körperfülle haben. Es ist genauso eine Frage von Alter, Gender und Haut­farbe.
Auf Ihren Web- und Facebook-Seiten werden die falschen Botschaften der Schönheitsindustrie und der Schlankheitswahn kritisiert sowie alle Frauen dazu aufgerufen, sich selbst »schön« zu finden. Reichen solche Aufrufe, um die gesellschaftlichen Mechanismen der Körpernormierung zu brechen?
Alena Thiem: Es wäre schön, wenn das reichen würde. Uns ist aber schon klar, dass dies nicht der Fall ist. Dazu muss ein grundsätzliches gesellschaftliches Umdenken auf verschiedenen Ebenen erfolgen. Wir versuchen, an bestimmten Dogmen zu rütteln, mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen. Zum Beispiel an der Gleichung, die »schlank« als ein Synonym von »schön« de­finiert. Und da stellen wir fest, dass unsere Botschaften auch an den richtigen Stellen ankommen. Im vergangenen Sommer haben wir zum Beispiel verfolgt, wie sich etwa das US- amerikanischen Jugendmagazin Seventeen in einer Erklärung dazu verpflichtet hat, auf die digitale Bearbeitung von Frauenbildern zu verzichten. Zuvor hatte eine Teenagerin aus eigener Initiative mit einer Online-Petition gegen das von der Zeitschrift propagiert Bild weiblicher Körper protestiert. Sie hatte darauf hingewiesen, wie negativ sich diese irreal perfekten Frauenkörper auf das Selbstbild vieler jungen Frauen auswirken. Die Resonanz war unglaublich groß.
Aber sind Essstörungen bei Frauen einfach auf die Bilder in Hochglanzmagazinen zu reduzieren? Reproduzieren die Kampagnen gegen »Size Zero« und mit Photoshop bearbeiteten Frauenfotos nicht das sexistische Klischee, Essstörungen würden nur bei Mädchen und Frauen auftreten, die kein anderes Ziel im Leben haben, als wie Kate Moss auszusehen?
Yvonne Franck: Natürlich sollte man die Kritik nicht auf die Schönheitsindustrie beschränken. Es ist sicherlich wichtig, auf die politische Dimension von Essstörungen hinzuweisen, und in der Debatte auf die Entfremdung des weiblichen Körpers und den Sexismus in der Gesellschaft hinzuweisen, wie Orbach und Penny es getan haben. Aber die Kraft der allgegenwärtigen Bilder aus der Schönheitsindustrie sollte nicht unterschätzt werden. Sie beeinflussen die Selbstwahrnehmung heute viel stärker als vor 40 Jahren, weil sie eben uns alle ständig erreichen. Zum Bild des kleinen magersüchtigen Mädchens, das wie ein Supermodel aussehen will: Dieses sexistische Klischee wird immer mehr durch Studien widerlegt, die zeigen, dass je höher der Bildungsgrad der Frauen ist, desto unzufriedener sie auch mit ihren Körpern sind, was nicht zwangsläufig, aber oft zu einem gestörten Essverhalten führen kann. Der Hype um Individualität und Einzigartigkeit, der ein wesentlicher Teil der neoliberalen Ideologie ist, gilt bezüglich der globalen Körpernormen nicht. Frauen zum Großteil, aber langsam auch Männer, sind dazu angehalten, den eigenen Körper »in Form« zu halten und zwar in einer ganz bestimmten Form, von der keine Abweichung vorgesehen ist.
Alena Thiem: Die politische Dimension ist die, dass Frauen in unserer Gesellschaft am Bild der großen, schlanken, meist weißen Frau gemessen werden, die nicht nur gut aussieht, sondern auch erfolgreich und glücklich ist. Die Frau, die dem herrschenden Ideal nicht entspricht, und Schlankheit ist eines der wichtigsten Maßstäbe dafür, wird als Versagerin gelabelt, ihr wird die Anerkennung verweigert. Wie oft hat man über eine Frau, die nicht perfekt gestylt ist oder zugenommen hat, den Spruch gehört, sie habe sich gehen lassen oder sie sei nicht »diszipliniert« genug? Unter diesem Druck stehen sehr viele Frauen heute.
Wo liegt denn die Grenze zwischen normalem und krankhaftem Essverhalten in Zeiten des ständigen Bleib-in-Form-Terrors? Besteht bei vielen, sicherlich gut gemeinten Kampagnen gegen den Schönheitswahn nicht die Gefahr der Pathologisierung?
Yvonne Franck: Diese Kampagnen richten sich weniger gegen das individuelle Verhalten als vielmehr gegen eine Gesellschaft, die ständig auf Diät ist. Immer mehr Menschen, und insbesondere Frauen, sehen Essen nicht mehr als etwas, was den Körper nährt, oder gar als Genuss. Essen wird als Feind wahrgenommen. Das Essen ist der Teufel, der uns ständig zu verführen versucht, der sich zwischen einen selbst und dem vermeintlichen Traumkörper stellt und uns in die Hölle des Übergewichts zieht. Diese Einstellung gilt es zu brechen. Der individuelle Wunsch, ein paar Kilo loszuwerden, aus welchen Gründen auch immer, ist etwas anderes. Übergewicht wird als das größte Problem unserer Zeiten identifiziert. Aber ist die Körpermasse an sich wirklich das Problem? Menschen, die nicht dem Schlankheitsideal entsprechen, werden als faul und undiszipliniert dargestellt und also gesellschaftlich stigmatisiert. Häufig wird diese Debatte unter dem Deckmantel der Gesundheit geführt. Das bringt uns nicht weiter.
In den vergangenen Jahren sind viele Initiativen entstanden, die sich explizit dadurch definieren, dass sie sich mit dicken Menschen solidarisieren. Finden Sie den Hype um das Dicksein eine angemessen Reaktion auf den herrschenden Schönheits- und Schlankheitskult?
Alena Thiem: Nein. AnyBody Deutschland setzt sich als Teil von »Endangered Bodies« für körperliche Vielfalt ein. Wir wehren uns ganz strikt dagegen, Körper in schlechte und gute Formen einzuteilen. Es geht uns nicht darum, zu sagen, Size Zero ist hässlich. Schönheit hat mit der Kleidergröße eben nichts zu tun. Das ist der Maßstab, den es zu ändern gilt. Uns geht es darum, das Bild von Schönheit zu öffnen, damit es vielfältiger ausgelebt werden kann. Die Fatism-Bewegung ist eine extreme Auslegung dessen, was wir anstreben, sie weist aber auf ein reales Problem hin und das finden wir gut.