Islamismus und Widerstand in arabischen Ländern

Kein Weg zurück

Die Erfolge der arabischen Revolten werden von Islamismus und Konfessionalismus bedroht, doch ein großer Teil der Bevölkerung will nicht mehr vom Staat gegängelt werden.

Seit einigen Wochen stehen sich schwerbewaffnete irakische Truppen und Einheiten der kurdischen Regionalregierung südlich von Kirkuk auf Schussweite gegenüber, der irakische Ministerpräsident Nouri al-Maliki und der kurdische Präsident Massoud Barzani überbieten sich in kriege­rischer Rhetorik. Ein falscher Schritt und der Irak könnte in einen Bürgerkrieg abgleiten.
Die neue Auseinandersetzung zwischen Sunniten und Schiiten, die seit Beginn des syrischen Aufstandes die ganze Region polarisiert, betrifft auch den Irak. Das ist die eine Seite, eine Folge der Ereignisse, die als »arabischer Frühling« bezeichnet werden. Die andere Seite ist weit weniger spektakulär, aber langfristig vielleicht folgenreicher: Niemand scheint sich für die Konfronta­tion nahe Kirkuk zu interessieren.
»Die Menschen haben genug von Krieg, Waffen und dem ganzen Elend«, meint ein jugendlicher Restaurantangestellter in Halabja, wo man sich dieser Tage auf die Gedenkfeiern zum 25. Jahrestag des Giftgasangriffs der irakischen Armee auf die kurdische Stadt am 16. März 1988 vorbereitet. Im Fernsehsender NRT laufen gerade die Hauptnachrichten, erst an sechster Stelle meldet die Sprecherin, dass es scheine, als hätten Verhandlungen die Lage in Kirkuk entspannt. Die Ikonographie und Rhetorik, die man jahrelang aus dem Nahen Osten kannte – starke Führer, die vor hysterisierten Massen große Reden schwingen und imaginierten oder realen Feinden totale Vernichtung androhen –, ist zwar noch präsent, nur bleibt sie dieser Tage seltsam wirkungslos.
Es scheint, als hätten große Teile der Bevölkerung diesen alten Nahen Osten einfach satt. Man möchte sich ungestört ein wenig dem Konsum hingeben, ein paar neu errungene Freiheiten genießen und vor allem nicht mehr vom omnipräsenten Staat gegängelt werden. Dies gilt für so unterschiedliche Länder wie Bahrain und Kuwait, den Jemen, Syrien und die Staaten Nordafrikas. Wenn unerwartet in den vergangenen Wochen Hunderttausende Ägypter gegen Präsident Mohammed Mursi demonstrierten, dann wohl weniger wegen umstrittener Paragraphen des zur Abstimmung vorgelegten Verfassungsentwurfs als aufgrund der Angst, das alte gesellschafts­system könne nun in Gestalt der Muslimbrüder zurückkehren.
So wenig die Jugendlichen in Halabja sagen können, was sie genau wollen oder von der Zukunft erwarten, wenn man sie fragt, so wissen sie doch genau, was sie nicht mehr wollen. Jenen, die in Ägypten und Tunesien gegen die Islamisten demonstrieren, dürfte es ähnlich gehen. Wenn sie mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, »Freiheit und Brot« fordern, haben die wenigsten eine konkrete Vorstellung, wie sie diese Ziele erreichen könnten. Doch anders als die Generation ihrer Eltern glauben sie nicht mehr an ideologische Großprojekte.

Das ist Stärke und Schwäche zugleich, denn was sich jetzt als neue Oppositionsbewegung zu formieren beginnt, ist nicht nur äußerst heterogen, es mangelt auch an einem konsistenten politischen und ökonomischen Programm. Und anders als im ölreichen Irak und in Libyen können die Menschen in Ländern wie Ägypten und Tunesien nicht einfach darauf hoffen, dass die Ölrente es früher oder später schon richten wird. Ökonomisch steht das von chronischer Massenarmut geplagte Ägypten vor dem Kollaps, Tunesien geht es nur wenig besser, von Syrien mag man an dieser Stelle gar nicht mehr sprechen.
Ein funktionierendes Wirtschaftsprogramm hat die Opposition allerdinges so wenig wie die regierenden Islamisten. Weder von den ägyptischen Muslimbrüdern noch von al-Nahda in Tunesien liegen tragfähige Konzepte oder Ideen vor. Bislang beschränkt sich das vage Programm der Islamisten auf mehr Sharia plus Wirtschaftsliberalisierung, der Rest ist Ideologie, Mobilisierung und die Fiktion, man repräsentiere ohnehin die absolute Mehrheit der Bevölkerung.
Kein Wunder also, dass etwa der ehemalige Muslimbruder Mokhtar Nouh, nun Kandidat der oppositionellen islamischen Partei »Starkes Ägypten«, den Massendemonstrationen der vergangenen Wochen wenig abgewinnen kann, auch wenn er die Politik Mursis ablehnt. Unter dieser, so sagte er der Zeitung al-Masry al-Youm, leide nicht nur das Ansehen der Muslimbrüder, sondern »das islamische Projekt als Ganzes, dessen Image schweren Schaden genommen« habe. Auch wenn, wie er glaubt, das Verfassungsreferendum mit knapper Mehrheit durchkommen werde, würden die Islamisten nicht mehr als jene gesehen, die eine Lösung zu bieten hätten, sie seien vielmehr selbst zum Problem geworden.

Zum ersten Mal seit Jahrzehnten wollen und fordern viele in den arabischen Gesellschaften etwas, das wohl am treffendsten mit dem Begriff der Normalität zu fassen wäre. Wie wenig solche Normalität in der Region besteht, demonstrierte derweil in Gaza der aus dem Exil angereiste Hamas-Führer Khaled Meshal, als er zur Feier des 25jährigen Jubiläums seiner Partei medienwirksam einer Papprakete entstieg, um in einer Hetzrede die Befreiung ganz Palästinas, also die Vernichtung Israels, anzukündigen, und dann eine Parade Fünfähriger in Uniformen abzunehmen, die mit AK-47-Attrappen aus Plastik in den Händen ihren Willen bekunden durften, als Märtyrer zu sterben. Besser als die Hamas vermag momentan wohl nur noch das ökonomisch schwer angeschlagene iranische Regime zu zeigen, dass Islamisten in Machtpositionen kaum mehr zu bieten haben als Tugendterror im Inneren und das Versprechen, alle Feinde, allen voran den jüdischen Staat, zu vernichten.
Wenn in Ägypten bei der ersten Runde der Abstimmung über die neue Verfassung nur knapp über die Hälfte mit Ja stimmen, in der Hauptstadt aber fast 60 Prozent mit Nein, ist dies ein deutlicher Indikator, dass nun bedeutende Teile der Gesellschaft dieses »islamistische Projekt« recht vehement zurückweisen, auch wenn nur ein Drittel der Wahlberechtigten am Referendum teilnahm. Vor allem die gebildetere urbane Mittel- und Oberschicht, die in den neunziger Jahren noch große Sympathien für den politischen Islam gehegt hat, lehnt ihn jetzt merheitlich ebenso ab wie die Industriearbeiterschaft. Zustimmung finden Muslimbrüder und Salafisten vor allem auf dem Land und in Kleinstädten und unter jenen 40 Prozent der Ägypter, die in absoluter Armut leben müssen.

Zusätzlich hilft den Islamisten allerdings die Unterstützung, die ihnen aus dem Ausland, vor allem den USA, zuteil wird. Wie Jonathan Spyrer kürzlich feststellte, versucht die US-Regierung, in schlechte Salafisten und gute Muslimbrüder zu trennen, wobei sie, ob in Ägypten oder Syrien, letztere stützt und nicht etwa die sich langsam herausbildenden nichtreligiösen politischen Kräfte. Auf Stabilität fixiert, glauben die Regierungen in den USA und Europa, mit den vermeintlich moderaten Muslimbrüdern ins Geschäft kommen zu können, wie zuvor mit dem inzwischen gestürzten Gruselkabinett abgehalfterter Diktatoren.
Doch die Spielregeln haben sich inzwischen geändert; welche in Zukunft gelten werden, ist unklar. Absehbar scheint, dass es weder den Islamisten gelingen wird, die Macht gegen den Willen eines bedeutenden Teiles der Bevölkerung einfach zu übernehmen, noch dem Westen, mit diesen neuen Machthabern die Region in seinem Sinne zu stabilisieren. Die Alternative ist klar. Entwe­der wird sich das Neue, das sich in der Region langsam herausbildet und noch schwer fassbar ist, entwickeln können, oder es droht ein Abgleiten in failed states und konfessionelle Bürgerkriege, die die ganze Region so ruiniert hinterlassen könnten wie das syrische Militär einige Städte des Landes.