Eine Ausstellung über Prostitutionsmigration in Berlin und Bremerhaven

Vom Schtetl ins Bordell

Die Ausstellung »Der gelbe Schein« geht der Geschichte der Prostitutionsmigration nach. Nebenbei wird ein bislang vergessener Teil der jüdischen Emigrationsgeschichte erzählt.

Die einen sprechen vom »ältesten Gewerbe der Welt« und fordern eine Normalisierung des Umgangs mit der Prostitution. Andere halten dagegen, von einem Gewerbe wie jedem anderen könne gar keine Rede sein, viel zu eng sei der Zusammenhang zwischen Prostitution und Ausbeutung, etwa von Migrantinnen, die sich nur schlecht für ihre Rechte einsetzen könnten.
Die berühmteste literarische Figur einer Prostituierten und Migrantin, Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens »Courasche«, zieht im Dreißigjährigen Krieg als Marketenderin mit den Soldaten durch die Lande und wird zur Inspirationsquelle für Bertolt Brechts »Mutter Courage«. Grimmelshausen beschreibt bereits 1669 ein historisches Faktum: In Männergesellschaften blüht die Prostitution, das gilt in Heereslagern wie bei der Fußballweltmeisterschaft der Männer. Was allerdings nicht unbedingt der Wahrheit entspricht, ist die Darstellung der Courasche als selbstbestimmte, gerissene Geschäftsfrau, die eher andere austrickst, als ihnen zum Opfer zu fallen.
Etwa die Hälfte aller Prostituierten in Deutschland sind Migrantinnen, schätzt das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Der Fokus der Berichterstattung liegt meist auf dem Schicksal von Frauen aus der Ukraine, aus Russland oder Bulgarien, die in Westeuropa arbeiten. Dass die Prostitutionsmigration auch den umgekehrten Weg genommen hat, ist weniger bekannt.
Wie bei Grimmelshausen dargestellt, sind Migration und Prostitution oft aufs Engste verbunden, entweder weil Menschen in der Fremde leichter auszubeuten und auf inoffizielle Verdienstmöglichkeiten angewiesen sind, oder weil Prostitution ein Weg ist, aus der armen Heimat auszubrechen und im Ausland Geld zu verdienen. Bis vor kurzem waren es vor allem Europäerinnen, die sich in Bordellen der Neuen Welt oder Russlands wiederfanden.
Die Umwandlungsprozesse des 19. Jahrhunderts, Industrialisierung und Landflucht, führten zunächst zur Abwanderung von Männern, die in Nord- und Südamerika Arbeit suchten. Schätzungen zufolge verließen in den Jahren von 1815 bis 1930 etwa 63 Millionen Menschen ihre europäischen Herkunftsländer. Eine zweite Welle der Auswanderung betraf das Russische Reich: Nach den Pogromen von 1881 verließen über vier Millionen Juden das Land – zu einem großen Teil mit den Zielen Nordamerika, Palästina und Argentinien.
Neue Migrationsgesellschaften mit großem Männerüberschuss entstanden, beim Eisenbahnbau oder im Goldgräbergeschäft waren Frauen kaum vertreten. Zugleich waren die wenigen Verdienstmöglichkeiten, die sich Frauen in Europa boten, kaum besser als die Prostitution; Hausangestellte etwa waren sexuellen Übergriffen ihrer Dienstherren schutztlos ausgeliefert. In der Hoffnung auf eine Anstellung oder Heirat im Ausland folgten viele Frauen den Anwerbern, die im Deutschen Reich, in Österreich-Ungarn und in ganz Osteuropa tätig waren – und verschuldeten sich schon für die Ausreise.
Insbesondere in Südamerika waren Zuhälter aktiv. Im Gegensatz zu den USA war in Argen­tinien und Brasilien Prostitution legal. Davon profitierte beispielsweise die Organisation »Zwi Migdal«, die auf die Armut con Jüdinnen setzte und bereits 1867 die ersten 70 Frauen aus Polen nach Brasilien holte. Wenige Jahre später lebten dort bereits über 1 000 jüdische Prostituierte, die abwertend als »Polacas« bezeichnet wurden. Ein Beispiel für den Sexismus, dem sie ausgesetzt waren, sind die Tagebuchaufzeichnungen des Schriftstellers Stefan Zweig, der 1936 eines der Bordelle in Rio de Janeiro besuchte. »Jüdinnen aus Osteuropa versprechen die aufregendsten Perversionen. (…) Einige Frauen sind wirklich schön – über allen liegt eine diskrete Melancholie – und deshalb erscheint ihre Erniedrigung, das Ausstellen in einem Schaufenster, nicht einmal vulgär, berührt mehr, als dass es erregt.«
Zugleich sind die jüdischen Prostituierten in Brasilien aber auch ein Beispiel für die Selbstorganisation von Frauen. Von der lokalen Gemeinde ausgegrenzt, gründeten sie eine eigene Gemeinde und einen eigenen Friedhof, auf dem 1970 die letzte der damaligen Migrantinnen beerdigt wurde. Auch der erste brasilianische Selbsthilfeverein von Prostituierten wurde 1906 von Jüdinnen gegründet. Inzwischen gibt es sogar künstlerische Bearbeitungen des Themas, etwa das Theaterstück »Prostitutas judias« des jüdischen brasilianischen Regisseurs Iacov Hillel und den Roman »Man nennt mich flatterhaft und was weiß ich … « des argentinischen Schriftstellers Edgardo Cozarinsky.
Auch im Russischen Reich waren Jüdinnen mit äußerst schwierigen Bedingungen konfrontiert. Sie gehörten häufig armen Schichten an und hatten im Schtetl außerdem kaum Bildungschancen. Ein weiterer Faktor war die Siedlungspolitik des Reiches: Juden durften sich nur innerhalb der sogenannten Ansiedelungsrayons aufhalten. Einziger Ausweg für Jüdinnen war der »gelbe Schein«, ein »medizinisches Billet«, das sie als offiziell registrierte Prostituierte auswies. Viele aufstiegswillige Frauen versuchten, diese Möglichkeit zu nutzen, um sich in den großen Städten anzusiedeln, vielleicht sogar zu studieren – ein Topos, der in jiddischen Theaterstücken und im Kino der Zeit eine Rolle spielt. Eine Rückkehr zum bürgerlichen Leben war allerdings in der Realität fast unmöglich. Im Tausch gegen den Schein mussten die Frauen ihre offiziellen Papiere abgeben.
Der Geschichte der Prostitutionsmigration geht die Ausstellung »Der gelbe Schein« nach, die mit unterschiedlichen Schwerpunkten parallel im Bremerhavener Deutschen Auswandererhaus und im Centrum Judaicum in der Neuen Synagoge Berlin gezeigt wird. Nebenbei erzählt die Ausstellung einen bislang vergessenen Teil der jüdischen Emigrationsgeschichte. Ein sensibles Thema, wenn man an das antisemitische Klischee des jüdischen Mädchenhändlers denkt. Dies war einer der Gründe dafür, dass es den jüdischen Gemeinden lange so schwerfiel, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Anders die Frauenrechtlerin und Sozialarbeiterin Bertha Pappenheim: »Wir können keineswegs sagen, dass es sich um ein nur jüdisches Problem handelt. Wir müssen es ablehnen, es als ein speziell jüdisches anzusehen, aber bei geschlossenen Türen sage ich, dass es auch ein jüdisches ist«, so die Gründerin des Jüdischen Frauenbundes 1923 auf dem Weltkongress jüdischer Frauen in Wien.
Die Ausstellung vermeidet jegliche Stereotype und zeigt etwa zur Hälfte jüdische und nichtjüdische Lebensgeschichten, wie Irene Stratenwerth, Kuratorin der Ausstellung, erklärt. Blickfang der Ausstellung in Berlin ist ein Exemplar des »gelben Scheins«, das das Ausstellungsteam in Sankt Petersburg aufgestöbert hat. Datiert 1875, ist es auf Julia Mendik ausgestellt, aus dem Kaukasusvorland stammend. Mehr ist nicht bekannt über Julia Mendik, und das gilt für die Mehrzahl der 15 Personen, deren Leben hier ausschnittsweise dargestellt sind: Oft gibt es nur einen Brief, ein Foto oder, wie im Fall von Maria Haase, ein Dokument von höchster Stelle: Die 1842 geborene Haase wurde nach Sankt Petersburg verschleppt und wandte sich an die dortige Polizei. Deren Urteil: Zurück ins Bordell oder ins Arbeitslager. Haase ging zum deutschen Gesandten, dem späteren Reichskanzler Otto von Bismarck, der sich schriftlich für sie einsetzte – sein Bericht ist in der Ausstellung zu lesen. Auch aus so weit entfernten Orten wie Bombay schreiben die Frauen – und landen mit ihren Geschichten in irgendeiner Akte. Eine Lobby hatten sie weder in der Heimat noch in den Aufnahmeländern.
Die Biographien der Frauen sind vielfältig: Folgten die einen den Versprechungen von Zuhältern oder vermeintlichen Brautwerbern, hatten andere, wie die »hessischen Leierorgelmädchen«, schon im Herkunftsland als Prostituierte gearbeitet. An Lese- und Hörstationen lassen sich die Wege dieser Frauen und die einiger Zuhälter in Berlin noch bis zum 30. Dezember in der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße 28 und in Bremerhaven bis zum 28. Februar 2013 im Deutschen Auswandererhaus nachverfolgen.