Nahrungsmittel auf dem »freien Markt«

Wir sind das Mehl in deinem Brot

Wenige Konzerne kontrollieren den internationalen Handel mit Grundnahrungsmitteln. Auf scheinbar deregulierten Märkten setzen sie die Standards und schaffen neue Märkte, gegen die Regierungen oder mit ihnen.

Im Sommer dieses Jahres führte eine Dürre im Mittleren Westen der USA zu den größten Ernteausfällen seit Jahrzehnten. Die UN-Agrarorganisation (FAO) warnte vor einer Wiederholung der Ereignisse von 2008, als Ernteausfälle in Australien und Russland zu Preissteigerungen geführt hatten, die sich durch Finanzspekulation so verschärften, dass sie Millionen von Menschen in den Hunger trieben und Revolten in 30 Staaten auslösten. Wie schon drei Jahre zuvor wurde auch in diesem Sommer wieder deutlich, dass das globale Nahrungsmittelsystem gefährdet ist.
Einige Wochen bevor das Ausmaß der Dürre zutage trat, verkündete der Getreidekonzern Cargill die Übernahme von AWB Ltd., der ehemals staatlichen Weizenhandelsgesellschaft in Australien. Gregory Page, Geschäftsführer von Cargill, begründete das so: »Wir sind in Russland, wir sind in der Ukraine, wir sind in Kanada, wir sind in den Vereinigten Staaten, wir sind in Argentinien, und wir hatten hier einfach noch keinen richtigen Fuß drin.« Page beschrieb damit den globalen Getreidemarkt. Metropolen wie Accra, Nairobi oder Manila werden heute aus Übersee ernährt. Weizen, Mais und Fleisch kommen aus dem Mittleren Westen der USA, aus der Ukraine oder Australien. Die weltweite Versorgung mit Mais und Weizen zu stabilen Preisen hängt offenbar von ganz wenigen Produktionsorten der Agrarindustrie ab – in Zeiten immer extremeresn Wetters und des Klimawandels.
Diese starke regionale Konzentration der Grundnahrungsmittelproduktion ist das Ergebnis der Strukturanpassungsideologie der vergangenen Jahrzehnte. Vor knapp 30 Jahren produzierte die Mehrheit der ärmsten Länder (sogenannte »Least Developed Countries«) genug Nahrungsmittel, um ihre jeweilige Bevölkerung zu ernähren. Heute sind 70 Prozent von ihnen Importeure von Grundnahrungsmitteln. Preismechanismen und Vermarktungshilfen, die Kleinbauern bis zu einem gewissen Grad vor den Preisschwankungen schützten und ein Mindestmaß an Planungssicherheit ermöglichten, wurden abgeschafft, das staatliche Geld für den Agrarsektor wurde stark ­reduziert. Mit der Öffnung von Märkten führte dies in vielen Regionen zum Zusammenbruch der bäuerlichen Landwirtschaft.
In einer Studie der Weltbank stellten die Autoren kürzlich schockiert fest, dass nur fünf Prozent der Grundnahrungsmittelimporte Afrikas aus anderen afrikanischen Staaten kommen. Die Weltbank jedoch empfiehlt keinen zusätzlichen Schutz, etwa vor »Partnerschaftsabkommen«, mit denen die EU den afrikanischen Staaten eine weitere Liberalisierung aufzwingt, sondern rät ausschließlich zum Abbau der regionalen Handelsbarrieren. Freier Handel in kleinem Maßstab soll die Auswüchse des freien Handels im Großen mildern.

Doch was bedeutet dieser »freie Handel«? Im globalen Nahrungsmittelsystem verkauft eine große Zahl von Produzenten Nahrungsmittel an we­nige Handelskonzerne, Nahrungsmittelverarbeiter und Supermarktketten, die heute die Spielregeln und Preise bestimmen, die Infrastruktur organisieren und neue »Märkte« schaffen: Konzerne wie Cargill.
Anders als Nestlé oder Rewe erwirtschaftet Cargill Profite mit Rohstoffen und gering verarbeiteten Produkten. Diese werfen pro Stück überschaubare Margen ab. Um die Profitrate hoch zu halten, ist das Unternehmen daher auf permanente Expansion angewiesen. Der Konzern stieß im Laufe der letzten Jahrzehnte, ähnlich wie die drei anderen Großkonzerne Louis Dreyfus, Bunge Ltd. und Archer Daniels Midland (ADM), in immer mehr Bereiche des Handels mit Agrarprodukten vor. Cargill selbst beschreibt dies in einer Werbebroschüre anschaulich: »Wir sind das Mehl in deinem Brot, der Weizen in deinen Nudeln, das Salz auf deinen Chips. Wir sind der Mais in deinen Tortillas, die Schokolade in deinem Dessert, der Süßstoff in deinem Softdrink. Wir sind das Öl in deinem Salatdressing, Rind, Schwein und Geflügel in deinem Dinner. Wir sind die Baumwolle in deiner Kleidung, der Kleister hinter deiner Tapete und der Dünger auf deinem Feld.« Gregory Page bringt diese Omnipräsenz nüchterner auf den Punkt: »Unser Business ist Photosynthese.« Der derzeitige Umsatz des Konzerns liegt bei über 119 Milliarden US-Dollar, ist also höher als die Gesamtwirtschaftsleistung der meisten Staaten dieser Welt. Cargill kontrolliert eine Flotte von 1 300 Transportschiffen, eine Unzahl an Getreidesilos und eigenen Schlachtfabriken in den USA, vergibt weltweit Kredite und bietet Versicherungsdienstleistungen an. Beunruhigend ist, dass das Unternehmen nicht börsennotiert, also weniger transparent ist als andere Konzerne. Über 90 Prozent seiner Anteile werden von rund 100 Privatbesitzern gehalten, die alle den Familien von William W. Cargill oder John H. MacMillan angehören. Ersterer hatte die Firma 1865 gegründet; MacMillan war sein Schwiegersohn und leitete den Konzern nach Cargills Tod.

In den letzten Jahren haben diese Privatbesitzer enorm profitiert. Cargill erzielte 2008, im Jahr der Hungerkrise, nahezu 4 Milliarden Dollar Profit. Abgesehen vom Geschäftsjahr 2011 das Rekordergebnis des Konzerns. Der Rohstoffkonzern profitierte dabei nicht nur von seinen Lagerkapazitäten, die es ihm ermöglichen, die Ware je nach Preislage zu horten und abzusetzen. Cargill macht auch Profite mit Agrokraftstoffen und Finanzmarktgeschäften. Mit Fonds spekuliert Cargill nicht nur auf eigene Rechnung, sondern bietet Derivate für Anleger an, die in die Nahrungsmittelspekulation einsteigen wollen. Seine Position in den realen Märkten sichert dem Unternehmen dabei einen Informationsvorsprung, eine Art legaler Insiderhandel. Schließlich profitiert der Konzern auch direkt vom Hunger. Wie der Guardian aufdeckte, bezog die US-Regierung allein im vergangenen Jahr für 96 Millionen Dollar Nahrungsmittelhilfe, die sie in die Welt schickt, von Cargill.
Der argentinische Staat bezichtigte den Konzern kürzlich der Steuerhinterziehung und forderte 252 Millionen Dollar. Im vorigen Jahr geriet das Unternehmen unter Druck wegen eines Ausbruchs von Salmonellen in einer Fabrik in Arkansas, der mehr als 100 Menschen ins Krankenhaus brachte und zu einem Todesfall führte. Vielfach sieht sich der Konzern dem Vorwurf ausgesetzt, Kinderarbeit in Westafrika und die Verletzung von Arbeiterrechten in Usbekistan zu tolerieren. Cargill agiert je nach Bedarf gegen Regierungen oder mit ihnen. »Cargill ist in den letzten 25 Jahren eine sehr gute Kraft in allen handelspolitischen Verhandlungen für uns gewesen«, sagt der ehemalige US-Landwirtschaftsminister Clayton Yeutter. Im Rahmen der New Alliance for Food Security and Nutrition, einer Initiative der G8-Staaten, haben sich sechs afrikanische Regierungen in den letzten Monaten zu weitreichenden Konzessionen an die Landwirtschafts- und Ernährungsindustrie verpflichtet. Cargill treibt diese Initiative entscheidend voran und verspricht, gemeinsam mit »Partnern« in afrikanischen Ländern in den Kakao- und Baumwollsektor zu investieren. Dafür erhält Cargill unter anderem via Vertragsanbau Zugang zu 40 000 Hektar Land in Mosambik. »Keiner will eine Politik, die es erschwert, alle Menschen zu ernähren«, sagt Page. »Und wir wollen nicht mit einem Geschäftsmodell mit limitierten Freiheiten enden.« Dass zwischen diesen beiden Ansprüchen ein Widerspruch bestehen könnte, kommt der Cargill-Familie nicht in den Sinn.