Der südafrikanische ANC steht kaum noch für Befreiung

Befreiung war gestern

Ende Dezember tagte der in Südafrika regierende African National Congress. Vom Glanz der einstigen Befreiungsbewegung ist nicht viel übrig geblieben.

Während die Menschen in Südafrika sich um den an Lungenentzündung erkrankten Nelson Mandela sorgen, wurde auf der 53. Nationalen Konferenz des regierenden African National Congress (ANC) vom 16. bis 20. Dezember in Bloemfontein Präsident Jacob Zuma mit 75 Prozent der Stimmen in seinem Amt als Parteivorsitzender bestätigt. Sein Herausforderer Kgalema Motlanthe, der stellvertretende Präsident, musste eine schmerzhafte Niederlage einstecken. Mit größter Wahrscheinlichkeit wird Zuma in der nächsten Legislaturperiode bis 2019 auch der mit absoluter Mehrheit regierenden Dreierallianz aus dem ANC, dem Gewerkschaftsdachverband Cosatu und der Kommunistischen Partei (SACP) vorstehen. Doch auch wenn das Abstimmungsergebnis einen breiten Konsens zu repräsentieren scheint, wird die Distanz zwischen der Parteielite des ANC und seiner Basis immer größer und vieles spricht dafür, dass das vergangene Jahr den Anfang vom Ende der unangefochtenen Legitimität der einstigen Befreiungsbewegung markiert.

Für Zuma war 2012 vor allem ein Jahr der Skandale, die seinem Rückhalt innerhalb der Partei jedoch nicht so sehr schadeten, dass sie ihn sein Amt gekostet hätten. Die Wahlen der Delegierten zur Konferenz wurden aber höchstwahrscheinlich manipuliert. Im Mai verursachte das Gemälde The Spear des Künstlers Brett Murray, das Zuma in der Pose Lenins mit entblößten Genitalien darstellt, einen erheblichen Eklat. Hintergrund ist, dass Zuma öffentlich gerne den Habitus des patriarchal-polygamen Zulu chiefs kultiviert und sich wiederholt chauvinistisch über die gesellschaftliche Rolle der Frauen geäußert hat. Als das Gemälde in einer Galerie in Johannesburg ausgestellt wurde, verurteilte der ANC dies öffentlich, organisierte Protestmärsche, und schließlich wurde das Gemälde mit Farbe beschmiert. Die SAPC tat sich im Zuge der Affäre mit einem Gesetzentwurf zum Schutz der Würde des Amtes des Präsidenten hervor.
Diese Zensurversuche sollten nicht die letzten bleiben. So stellt die kürzlich verabschiedete Protection of State Information Bill eine gravierende Einschränkung der Freiheit journalistischer Berichterstattung über staatliches Handeln und Korruption unter Amtsträgern dar, und vor der Konferenz des ANC kam es zu Umbesetzungen beim staatlichen Rundfunk, die offensichtlich eine kritische Berichterstattung verhindern sollten. Außerdem flog auf, dass Zuma in seiner Heimatprovinz KwaZulu-Natal derzeit mit Steuergeldern von umgerechnet mindestens 25 Millionen Euro sein Privatanwesen in Nkandla mit Helipads, Tennisplätzen und Bunkern ausstattet. Als dies bekannt geworden war, wurden die Bauvorhaben sofort als sicherheitsrelevant deklariert, um die Veröffentlichung weiterer Details zu unterbinden. Darüber hinaus strengt die Oppositionspartei Democratic Alliance eine Untersuchung der juristischen Umstände an, die dazu führten, dass 2009 eine Anklage wegen Korruption gegen Zuma fallengelassen wurde. Kürzlich veröffentlichte Ergebnisse einer Prüfung der Vermögensverhältnisse des Präsidenten ergaben, dass er Schenkungen in erheblicher Höhe von verschiedenen Geschäftsleuten, aber auch von Mandela angenommen hatte. Derweil ist das Durchschnittseinkommen der armen Bevölkerungsmehrheit im Vergleich zur Zeit der Apartheid sogar gesunken und die Arbeitslosenquote wird auf zwischen 25 und 40 Prozent geschätzt.
Wie weit sich die Parteielite des ANC von den Interessen seiner Basis entfernt hat, verdeutlichte vor allem das Massaker an den Arbeitern der Platinmine des Unternehmens Lonmin in Marikana im Nordwesten des Landes Mitte August (Jungle World 35/2012). Dort hatten Sondereinheiten der Polizei 34 streikende Arbeiter erschossen, was bei vielen Südafrikanerinnen und Südafrikanern Erinnerungen an Massaker aus Zeiten der Apartheidsregierung wachrief. Vertreter der offiziellen Minenarbeitergewerkschaft NUM beeilten sich jedoch, die Schuld an der Eskalation der radikalen Splittergewerkschaft AMCU zuzuschieben, die die größtenteils aus Eastern Cape, der ärmsten Provinz Südafrikas, stammenden Arbeiter aufgehetzt hätte. Die Medien versuchten, die Streikenden und ihre Ziele zu delegitimieren, indem sich die Berichterstattung vor allem auf Geschichten über Hexendoktoren konzentrierte, die angeblich unverwundbar machende Zaubertränke an die Streikenden verkauft hätten.

Offiziell wurde zunächst uneingeschränkt der Version der Polizei geglaubt, die angibt, in Selbstverteidigung gehandelt zu haben. Bischof Desmond Tutu, Südafrikas Antwort auf den Dalai Lama, warnte sogar vor gewalttätigem Protest und überzogenen Forderungen. Erst unabhängige Untersuchungen förderten zutage, dass der Großteil der Streikenden nicht etwa im Kugelhagel der sich selbst verteidigenden Polizisten umgekommen war, sondern aus der Nähe erschossen oder von Militärfahrzeugen überrollt worden war. Die mittlerweile eingesetzte Untersuchungskommission stellte außerdem fest, dass die neben den Leichen liegenden traditionellen Waffen, die die offizielle Version des Hergangs zu untermauern schienen, auf früher aufgenommenen Fotos des Tatorts fehlen. Trotz seines blutigen Ausganges war der wilde Streik der Lonmin-Arbeiter insofern ein Erfolg, da Lohnerhöhungen in Höhe von 22 Prozent durchgesetzt werden konnten, was zwar weit unter den ursprünglichen Forderungen lag, aber erheblich mehr ist als das, was im Rahmen offizieller Verhandlungen zu erreichen gewesen wäre.
Insgesamt haben die offiziellen Gewerkschaften in Südafrika in den vergangenen Jahren erheblich an Bedeutung verloren. Sie vertreten immer mehr die Interessen von Angestellten und des mittleren Managements, wodurch die Mitgliederzahlen innerhalb der Arbeiterschaft stark sanken. Die erfolgreichsten Arbeitskämpfe des vergangen Jahres fanden deshalb auch außerhalb der Bahnen des gewerkschaftlich sanktionierten Tarifgeschehens statt. Bereits im Januar 2012 konnten die Arbeiter der Platinminen des Unternehmens Implats so eine beachtliche Lohnerhöhung durchsetzen. Und auch nach dem Massaker von Marikana wurden wilde Streiks ausgeweitet. Arbeiter in unterschiedlichen Platin- und Goldminen sowie Landarbeiterinnen und -arbeiter im Süden des Landes streikten und organisierten sich in autonomen Komitees.

Die Desillusionierung über den Partei- und Gewerkschaftsapparat zeigt sich auch an der wachsenden Zahl selbstorganisierter sozialer Kämpfe, in denen es um Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen geht, um Wohnen, Bildung, Elektrizitäts- und Wasserversorgung. Diese Tendenz zur Selbstorganisation versucht der Staat zu vereinnahmen, wo ihm dies nicht gelingt, reagiert er mit Repression: Mitglieder der Armen- und Landlosenbewegungen sind regelmäßig Schikanen durch Polizei und Parteikader ausgesetzt, einige wurden sogar ermordet.
Sinnfälliger Ausdruck des Weges, den der ANC in den 18 Jahren seit dem Ende der Apartheid zurückgelegt hat, ist die Wahl Cyril Ramaphosas zum stellvertretenden Präsidenten. Als militanter Vorsitzender der Minenarbeitergewerkschaft NUM hatte er in den achtziger Jahren zur Schwächung des Apartheid-Regimes beigetragen, sich aber in den neunziger Jahren weitgehend aus der Politik zurückgezogen. Nun kehrt er als Multimillionär zurück in Amt und Würden. Bezeichnenderweise hält seine Investmentgesellschaft auch Anteile an Lonmin, dem Betreiber der Marikana-Mine. Einen Tag vor dem Massaker schrieb er in einer E-Mail an ein Vorstandsmitglied von Lonmin von »kriminellen Handlungen«, die auch »entsprechende Reaktionen« erforderten. Ähnlich lautende E-Mails sollen auch an die Ministerien für Polizei und für Rohstoffe gegangen sein.