Die Folgen von Ölförderung und Kokaanbau in Kolumbien

Kein Öl mehr für die Unterwelt

In Kolumbien lebt die indigene Bevölkerungsgruppe der Cofán in einem Naturschutzgebiet, das aufgrund der Erdölförderung und des Kokaanbaus immer stärker bedroht ist.

Eine weiße Flagge weht über dem Holzhaus von Querubin Queta. Er ist Schamane der indigenen Gruppe Cofán, die im Amazonas, im heutigen ecuadorianisch-kolumbianischen Grenzgebiet lebt. Der geachtete Mann steht auf der Terrasse seines Hauses und erzählt, wie sich jüngst in seinem Dorf ein paar hundert Guerilleros mit ein paar hundert Soldaten der Regierungsarmee stundenlang ein Feuergefecht geliefert haben: »Ich war unbewaffnet und blieb in meinem Haus inmitten des Dorfes, das sich zu einem Kampfplatz verwandelt hat.« Bei diesem Kampf geht es um die Vorherrschaft im kolumbianischen Bundesstaat Putumayo.
Das Leben vieler Menschen hier besteht schon seit langem daraus, sich mit wechselnden Autoritäten und Interessengruppen zu arrangieren. Erste europäische Einflüsse kamen mit christlichen Missionaren in diese Region. Später wurden hier Chinin und Kautschuk produziert, auch die Holzindustrie florierte. Seit 1965 kamen Erdölfirmen in diesen Teil des Amazonas, der Bundesstaat Putumayo hat sich seither zu einem wichtigen Fördergebiet entwickelt. Eine Infrastruktur wurde geschaffen, um Bodenschätze abzubauen. Es entstanden Straßen, Förderanlagen und Wohnkomplexe für die Arbeiter. Das Leben der Cofán ist seitdem immer schwieriger geworden. Das, was für sie zunächst Ausnahmezustand war, ist für viele heute zur Lebensnormalität geworden.

Das kleine Dorf Jardines de Subcumbios, aus dem Querubin stammt, ist mit der nächstgelegenen Stadt, Orito, durch eine Sandpiste verbunden. Parallel zu ihr verläuft eine dünne Pipeline. In regelmäßigen Abständen treten darin Lecks auf, das Rohöl strömt an diesen Stellen unkontrolliert in die Landschaft und bildet pechschwarze Seen mit Durchmessern von bis zu mehreren Dutzend Metern. Schätzungen der staatlichen Menschenrechtsorganisation Defensoría del Pueblo gehen davon aus, dass in Kolumbien insgesamt bereits ein Vielfaches der Menge an Rohöl ausgelaufen ist, wie bei der Katastrophe der Exxon Valdez, eines US-amerikanischen Öltankers, der 1989 vor Alaska auf Grund lief. Bei dem Unfall liefen damals 37 000 Tonnen Rohöl ins Meer.
Der Weg ins Schutzgebiet der Cofán, Uri Mari Khanke, führt durch das Dorf El Palme. Hier stehen drei große, runde Ölsilos und die Pumpe einer Ölförderanlage. Aus einem dicken Rohr entweicht zischend Dampf. Im näheren Umkreis wächst keine einzige Pflanze. Stattdessen ist die gesamte Oberfläche mit einem schwarzen Rohölfilm überzogen. Ein vom Regenwasser gespeister Bach transportiert kontaminiertes Wasser in den nahegelegenen Fluss, der früher wegen seines Fischreichtums eine wichtige Nahrungsquelle war. Heute markieren die ölverschmutzten Steine und Pflanzenblätter am Ufer den Wasserstand der vergangenen Wochen.
Für die Cofán steht schon die Erdölförderung an sich im Widerspruch zu ihrer Weltanschauung. In ihrer Mythologie ist Öl nämlich das »Blut der Coancoans«, der Bewohner der Unterwelt, die den Cofán bei der Jagd sowie beim Fischfang beistehen. Die Schamanen nehmen Kontakt zu den Bewohnern der Unterwelt auf. Sterben die Coancoans, ist auch das Leben der Cofán in Gefahr.
Laut Konvention Nummer 169 der Internationalen Arbeitsorganisation, einer Unterorganisation der UN, müssen indigenen Gruppen wie den Cofán Autonomierechte an ihren Gebieten zugesprochen werden. Diese Konvention wurde zwar vom kolumbianischen Staat ratifiziert, ihre Anwendung beschränkt sich jedoch auf die Erdoberfläche, im Boden lagernde Rohstoffe sind von der Regelung ausgenommen. Von staatlicher Seite also können die Cofán kaum Hilfe erwarten.
Die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen gegen einflussreiche Ölfirmen oder staatlichen Institutionen ist für die indigenen Gruppen aus mehreren Gründen schwierig. Die Cofán, deren Zahl auf 1 500 geschätzt wird, leben in zwei unterschiedlichen Nationalstaaten. Juristische Kenntnisse fehlen oft und ein Budget für teure Anwälte oder langwierige Rechtsstreits ist nicht vorhanden. In einem Versuch der Selbsthilfe wurde der Schamanenschüler Camilo Yoge vom Ältestenrat der Cofán ausgewählt, um in der Hauptstadt Bogotá an der Universidad Nacional Jura zu studieren und die Rechte der Cofán juristisch zu verteidigen. Yoge wurde noch vor dem Ende des ersten Semesters umgebracht. Der genaue Tat­her­gang ist bis heute ungeklärt. Vorausgegangen war ein Streit über den Landverkauf eines Teils des Schutzgebietes. Die Mordrate ist im Bundesstaat Putumayo fast doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt.

Bei der Reise durch den Bundesstaat Putumayo fallen zahlreiche Kokafelder ins Auge. Hier konnten in den letzten drei Jahrzehnten Siedler über die von der Ölindustrie geschaffenen Wege und Straßen in die ehemals schwer zugänglichen Dschungelgebiete migrieren. Als sich in den achtziger Jahren Kolumbien vom Drogentransport- und Weiterverarbeitungsland zum Kokaanbauland entwickelte, wurden weite Flächen gerodet und für die Kokalandwirtschaft nutzbar gemacht.
Die widerstandsfähige Kokapflanze gedeiht nicht nur in den Ebenen der Anden, sondern ebenfalls im tropischen Amazonasbecken. Für die Bauern entstehen keine Transportprobleme wie bei der Vermarktung anderer landwirtschaftlicher Erzeugnisse, da sich die Kokahändler die Ernte vor Ort abholen. In sogenannten »Drogenlaboren«, meist aus Plastikplanen gezimmerte Verschläge, wird mit Chemikalien in Hand- und Fußarbeit aus den Pflanzenblättern Kokain gewonnen.
Obwohl der Haupterlös des Kokaingeschäfts beim Export und Verkauf im Ausland abfällt, ist der Anbau lukrativ. Bauern erzählen, dass durch den »Kokaboom« ein regelrechter Geldsegen ausgebrochen sei. Das hat dazu geführt, dass die Preise für Produkte des täglichen Bedarfs gestiegen und immer mehr Luxusartikel wie beispielsweise teure Motorräder eingeführt worden sind. Auch viele Cofán haben damals angefangen, statt Nahrungspflanzen Koka anzubauen. Damit nahm Geld im Leben dieser Bevölkerungsgruppe eine wichtigere Rolle als die traditionelle Subsistenzwirtschaft ein.
Noch heute pflanzen Siedler und Cofán Kokasträucher an. Ein sichtbares Zeichen sind die zahlreichen Düngemittelgeschäfte in der Bundeshauptstadt Mocoa, deren Produkte sich für Subsistenzfarmer oder kleinere Cash-Crops-Bauern finanziell kaum lohnen würden.

Die negativen Folgen dieser Entwicklung waren zunächst nicht absehbar. Doch mit dem Koka­anbau verstärkten paramilitärische Gruppen, die Guerilla und das Militär ihre Präsenz im umkämpften Bundesstaat, weil die Kontrolle über die Anbaugebiete Macht bedeutet. Der Kampf gegen den Drogenhandel und den Kokaanbau dient als Rechtfertigung dafür, die Gegend mit Glyphosat, einem starken Breitbandherbizid, zu besprühen. Tieffliegende Flugzeuge verteilen die gefährliche Substanz aus der Luft.
»Wir werden wie Kakerlaken behandelt. Man besprüht uns aus der Luft mit Gift und vernichtet unser Essen«, meint ein Bauer. Und in der Tat ist es paradox. Koka ist eine äußerst resistente Pflanze. Im Vergleich zu anderen Pflanzen leidet sie weniger Schaden durch Glyhphosat, insbesondere bei guter Düngung. Die Blätter des Kokastrauches können »notgeerntet« werden und nach Abschlagen am unteren Stiel treibt die Pflanze neu aus. Gewöhnliche Nahrungsmittelpflanzen überleben das Gift hingegen nicht.
Ein älterer Bewohner des Dorfes der Cofán beschreibt, wie nach einer Besprühung die Fische seines kleinen, künstlichen Teiches verendet sind: »Erst haben sie wie unter Strom gezappelt und nach zwanzig Minuten schwammen sie tot an der Oberfläche.« Für den alten Mann, der keine Schuhe trägt, ist dies ein harter Schlag: »Ich wollte die Fische auf dem Markt verkaufen, um meinen Enkelkindern Bleistifte und Schulhefte zu kaufen.« Eine mit Mikrokrediten aufgebaute kleine Hühnerfarm habe er ebenfalls aufgeben müssen.
Eine weitere Folge der Besprühungen ist die Zerstörung des Regenwaldes. Die Siedler verlassen das besprühte Land und gehen in andere Dschungelgebiete, um dort durch Brandrodung neue Felder anzulegen. Die indigene Bevölkerung hingegen harrt auf dem kontaminierten Land aus und sieht ihre Existenzgrundlage schwinden. Selbst öffentliche Beschwerden können gefährlich enden. Als ein Bewohner des Cofán-Schutzgebietes die Folgen der Besprühungen öffentlich vor einer Fernsehkamera anprangerte, wurde er kurze Zeit später ermordet, wie Dorfbewohner mitteilen.

Heute abend findet eine Zeremonie statt. Querubin hat sie angesetzt. Er ist als Schamane über den Bundesstaat Putumayo hinaus bekannt, deshalb sei es ratsam, rechtzeitig zur Show zu kommen, um einen guten Platz zu bekommen, heißt es.
Am Dorfrand steht die »Casa de Yajé«, eine mit Wellblech gedeckte, geräumige Hütte. Die Zeremonie fängt gleich nach Sonnenuntergang an. Nach einleitenden Gesängen ruft Querubin die Teilnehmenden auf, nach vorne zu kommen, und schenkt ihnen den bitter schmeckenden Trank Yajé aus, ein Gebräu, das aus einer Liane und einer Wurzel gewonnen wird. Der Gebrauch von Yajé ist von den Anden bis zur Pazifikküste und von Kolumbien bis nach Ecuador, wenn auch unter unterschiedlichen Namen, üblich. Die Einnahme des Getränks kann Halluzinationen hervorrufen, die die Schamanen auf die »Seele« der Pflanze und nicht auf ihre besonderen Wirkstoffe zurückführen. Diese und ähnliche Zeremonien sollen vielseitige Aufgaben erfüllen: Man bereitet sich auf die Jagd vor, überdenkt wichtige Entscheidungen oder nimmt Kontakt zu den Ahnen auf.
Doch auch der rituelle Gebrauch der »heiligen Pflanze« ist bedroht. Ein Ereignis hat sich in das kollektive Gedächtnis der Cofán eingebrannt. Mittels internationaler Patentrechte konnte der US-Staatsbürger Loren Miller in den achtziger Jahren eine wichtige Zutat zur Herstellung von Yajé patentieren lassen. Er reichte erfolgreich einen Antrag auf Patenterteilung für die bisher angeblich nicht bekannte Lianenart banisteriopsis caapi ein, die er nach eigenen Angaben mit einem Ableger selbst gezüchtet habe. Obwohl ein britischer Botaniker die Pflanze bereits 1851 identifizierte und dies veröffentlichte, erhielt Miller 1986 ein Patent und hätte die Cofán theoretisch für den traditionellen Yajé-Gebrauch zur Kasse bitten können.
Dass die Pflanze patentiert wurde, löste selbstverständlich Proteste aus. Loren Miller wurde auf den fünften Kongress des Dachverbandes der Indigenenorganisation des Amazonasbeckens (Coica) zum »Feind der Indianer« erklärt. Die Coica versuchte erfolglos, mit Hilfe des in Washington ansässigen Center for International Enviromental Law das Patent wieder aufheben zu lassen. Auf einer Reise in die USA traf sich der Schamane Querubin sogar mit Loren Miller, um ihm den Gebrauch von Yajé zu untersagen. Er beschuldigte ihn, die »indigene Menschheit« in Unordnung gebracht zu haben. Für Querubin ist Miller ein Biopirat, der indigenes Wissen stiehlt, um persönlich finanzielle Vorteile zu erzielen. Trotz aller Proteste und Unregelmäßigkeiten konnte das Patent nur vorübergehend ausgesetzt werden. Nach 17 Jahren ist es dann ausgelaufen.
Seit 1994 ist das internationale TRIPS-Abkommen, eine Vereinbarung über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums, dem Zollabkommen GATT angehängt, dessen Ratifizierung für die Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation obligatorisch ist. Somit muss jeder Staat, der Zugang zu den Märkten der WTO-Mitglieder haben will, die sehr strengen Regelungen des TRIPS-Abkommens in nationales Recht umsetzen.
Auf diese Weise können in Kolumbien indigene Bevölkerungsgruppen wie die Cofán Zeuge werden, wie Unternehmen oder Einzelpersonen sich auf legale Weise ihr traditionelles Wissen und ihre einheimischen Pflanzen ohne Gegenleistung aneignen. Kritiker wie der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Joseph Stiglitz sehen im internationalen Patentrecht einen Freibrief, das geistige Eigentum der Entwicklungsländer zu stehlen – und anschließend von ihnen Nutzungsgebühren dafür zu verlangen. Verfechter von Patenten argumentieren dagegen, dass die indigenen Bevölkerungsgruppen ihre Erkenntnisse publizieren könnten. Somit würden die Gerichte den Vorrang dieses älteren Wissens anerkennen.
Das Leben indigener Bevölkerungsgruppen wie der Cofán wird durch die Globalisierung immer stärker fremdbestimmt. Die ökonomische Erschließung ihres Siedlungsgebiets zielt auf die Befriedigung einer globalen Nachfrage nach Rohstoffen, wobei lokale Bedürfnisse weitgehend unberücksichtigt bleiben. Trotz der schwierigen Herausforderungen stellen sich die Cofán der Situation. Querubin begegnet den zugezogenen Siedlern mit Respekt und bemüht sich um gute Beziehungen. Resignieren möchte er keinesfalls. Zum Abschied bittet er eindringlich: »Berichten Sie über mein Putumayo und mein Kolumbien, damit alle Welt von uns erfährt!«