Wer ist schuld am Tod des Linienrichters Richard Nieuwenhuizen?

»Scheißfußball« und keine Antwort

Vor einem Monat wurde der niederländische Linienrichter Richard Nieuwenhuizen von jugendlichen Kickern totgeprügelt. Seither dreht sich die Debatte, wer schuld sei, im Kreis: der Fußball, die Erziehung oder doch die Ausländer?

ugendzentrum Matrixx, Amsterdam-West, an einem Freitagabend Mitte Dezember. Eigentlich steht ein festliches Weihnachtsessen auf dem Programm. Doch bevor sich die Gäste zu Tisch begeben, ist da noch etwas zu erledigen. Etwas, das den Bezirksbürgermeister und zwei Kameracrews hierher gebracht hat: An der Wand neben dem Eingang wird eine kleine Plakette enthüllt. »Dies hätte nie passieren dürfen«, steht darauf. Und: »Sag Nein zu Gewalt und lass dies nie mehr passieren.«
Was »dies« ist, bedarf hierzulande keiner Erklärung. Nie gab es in den Niederlanden einen bekannteren Linienrichter als Richard Nieuwenhuizen, Miglied des Amateurclubs SC BuitenBoys aus der Stadt Almere in der Nähe von Amsterdam. Bekannt, und das ist das Tragische, wurde Richard Nieuwenhuizen, weil er am 2. Dezember nach einem Spiel von einer Gruppe jugendlicher Fußballer so heftig mit Tritten malträtiert wurde, dass er am folgenden Tag seinen schweren Hirnverletzungen erlag. Die Täter gehörten dem Auswärtsteam an, der Sportvereniging Nieuw Sloten aus Amsterdam.
In Nieuw Sloten wiederum liegt das Jugendzentrum Matrixx. Dass dort die genannte Wandtafel angebracht wurde, geht auf die Initiative einer 18jährigen Besucherin namens Kimberley zurück. Vor den Kameras erzählt sie an diesem Abend, wie der Schock über die Gewalttat den Bewohnern des Neubauviertels am Stadtrand in die Glieder fuhr. Als er sich legte, kam die Angst vor der Stigmatisierung des Kiezes. Denn unisono klang es aus Sport und Politik, die Gewaltorgie von Almere sei ein »gesellschaftliches Problem«. Der Drang, sich wie die Besucher des Jugendzentrums zu distanzieren, steht in engem Verhältnis zum interna­tionalen Medienecho und der Frage, was in den Vorstädten Amsterdams eigentlich los sei.
Obwohl es hierauf keine schnelle Atwort gibt, demonstrierte die Fußballwelt Handlungsbereitschaft. Entschlossen kündigte Michael van Praag, Vorsitzender des niederländischen Fußballverbands KNVB, rigide Maßnahmen an, um Gewaltexzesse künftig zu verhindern. »Wir haben es satt. All unsere vorbeugenden Maßnahmen haben nicht dazu geführt, dass diese Zahl abnimmt. Darum müssen wir den nächsten Schritt machen.« 2010 betrug die Anzahl registrierter Gewaltvorfälle im niederländischen Amateurfußball 1 040. Der KNVB hat sich zum Ziel gesetzt, diese mit härteren Strafen zu halbieren. 2011 waren es indes noch immer 873 Vorfälle.
Auch der Leiter der Amateurabteilung, Bernard Fransen, forderte entschlossenes Handeln. Seine Wortwahl offenbarte dabei jedoch vor allem Ratlosigkeit. »Jetzt muss wirklich etwas passieren. Den Ansatz von schlapper To­leranz haben wir hinter uns gelassen.« Die folgenden Wochen bestätigten diesen Eindruck. Am ersten Spieltag nach dem Tod Richard Nieuwenhuizens wurden alle Amateurmatches abgesagt. Dann lancierte man die Kampagne »Ohne Respekt kein Fußball«, die zunächst mit Plakaten auf Sportplätzen von sich reden machte.
Kurz vor Weihnachten folgte der inhaltliche Teil in Form einer Charta. »Es kommen keine neuen Regeln, aber der KNVB wird die heutigen stringenter anwenden«, heißt es da. Was bedeutet, dass nur der Kapitän sich beim Schiedsrichter über dessen Entscheidungen erkundigen darf und Protest »in Wort und Geste« mit einer gelben Karte geahndet wird. Auch die Trainer dürfen sich aus der Coachingzone nur noch an das eigene Team, keineswegs aber an Schiedsrichter wenden. Entsprechend der Vorbildfunktion der Proficlubs sollten diese den entsprechenden Verhaltenskodex, der bereits 2007 aufgestellt wurde, in der Winterpause symbolkräftig unterzeichnen.
Kritik äußerte unter anderem von Johan Dollekamp, dem Vorsitzenden der Schiedsrichtervereinigung COVS. Er bemängelte nicht nur, dass die groß angekündigten Maßnahmen bereits seit Jahren in Kraft seien, sondern auch das langsame Vorgehen des Verbands, während bereits kurz nach der Spielpause zu Gedenken Nieuwenhuizens bei einem Amateurspiel in Arnhem erneut ein Referee tätlich angegriffen wurde. Dollekamp schlug in einem Radio-Interview einen gänzlich anderen Ansatz vor: eine verbindliche Grundausbildung jedes Amateurschiedsrichters.
Unabhängig von brancheninternen Lösungen besteht in der niederländischen Öffentlichkeit Einigkeit darüber, dass die Gewalt nicht nur den Amateurfußball betrifft, sondern Ausdruck eines »gesellschaftlichen Problems« (Justizminister Ivo Opstelten) ist. Tatsächlich häufen sich in den Niederlanden seit Jahren Berichte über Angriffe auf Menschen im öffentlichen Dienst wie Krankenwagenpersonal oder Busfahrer, und der etwas vage Begriff der zinloos geweld (also »sinnloser«, willkürlicher Gewalt) hat im Rahmen eines vielschichtigen Sicherheitsdiskurses Dauerkonjunktur.
Als deren Ursprung werden vielfach die Familien genannt. »Wir müssen uns fragen, wo die Erziehung geblieben ist«, so Frank de Boer, Trainer von Ajax Amsterdam. Genau hier will auch Achmed Baâdoud ansetzen, der Bürgermeister des Amsterdamer Stadtteils Nieuw- West. Der Sozialdemokrat fordert, generell die Position von Autoritäten zu stärken. Die Basis hierfür will Baâdoud schon in der Grundschule legen: dass nach Landessitte Lehrpersonal mit Vornamen angesprochen wird, hat er als Sündenfall einer vermeintlich autoritätslosen Gesellschaft ausgemacht.
Man muss einer solchen Analyse nicht erst entgegenhalten, dass Länder wie Deutschland, der Kumpelei mit Pädagogen weniger verdächtig, ein ähnlich großes Gewaltproblem im Amateurfußball haben. Dass sie für eine Lösung kaum taugt, ist offensichtlich; interessant ist hingegen, dass sich hier ein Reflex wiederholt, der aus der hitzigen Integrationsdebatte in den Niederlanden nur zu bekannt ist: das emsige Bemühen, angesichts eklatanter Missstände den vermeintlichen Larifari-Liberalismus mit der Wurzel auszureißen.
Die Parallele kommt nicht von ungefähr: Die Diskurse über Fußballgewalt und Integration sind miteinander verbunden, seit der Augenzeugenbericht eines Offiziellen des SC BuitenBoys »die drei marokkanischen Spieler von Nieuw Sloten« als Täter nannte. Kurzfristig flackerte die Diskussion um vor allem marokkanische Migranten wieder auf, wenn auch weniger heftig als in den vergangenen Jahren. Auf dem neokonservativen Blog dagelijksestandaard.nl sprach der bekannte Publizist Joost Niemöller von einem »rassistischen Mord«. Und Geert Wilders (Partij voor de Vrijheid) konstatierte umgehend: »Es ist kein exklusives Fußballproblem, sondern ein Marokkanerproblem, das sich auf der Straße und in der Schule, im Einkaufszentrum und auf dem Fußballfeld äußert.«
Speziell in Internetforen wurde die Frage nach den Tätern und ihrem gesellschaftlichen Hintergrund kurz nach dem Tod Nieuwenhuizens mit einiger Vehemenz diskutiert. Schnell tauchte dabei auch eine Liste des B-Jugend­kaders der Speelvereiniging Nieuw Sloten auf. Erregt nahm man zur Kenntnis, dass die Täter wohl »Allochthone« sind – was eine nur bedingt sensationelle Erkenntnis ist, wenn lediglich drei der insgesamt 15 Namen nach alteingesessenen Niederländern klingen. Weniger Aufmerksamkeit findet indes folgende Tatsache: Der Stadtteil Nieuw-West hat einen Migrantenanteil von 50 Prozent, im Bezirk Nieuw Sloten selbst liegt er niedriger. Wie verhält sich dies zu der Tatsache, dass 80 Prozent der veröffentlichten Namen nicht nach alteingesessenen Niederländern klingen?
Was aus der Statistik hervorgeht, ist das fortgeschrittene Stadium der sozialen Segregation, die sich unter anderem in sportlichen Vorlieben widerspiegelt. In den vergangenen 50 Jahren erlebte die niederländischen Gesellschaft unter dem Begriff der »Entsäulung« einen tiefen Wandel: den Zerfall der traditionellen katholischen, protestantischen, liberalen und sozialistischen Milieus. Ähnlich strikt getrennt sind heute die Lebenswelten von blonden Hockey-Kids und dunkelhaarigen Nachwuchskickern. Fußball ist dabei wie eh und je der Sport der Unterschicht. Dass der eine so »allochthon« wie die anderen ist, liegt in der Natur der Sache, frappierend sind höchstens die Dimensionen.
Es überrascht nicht, dass der Sport hier nur ein Indikator für die größeren Zusammenhänge ist. »Ethnische Gruppen meiden einander«, titelte kurz vor Weihnachten das NRC Handelsblad über eine aktuelle Studie, die eine tiefe Kluft zwischen alteingesessener und ­migrantischer Bevölkerung in den Niederlanden bezeugt. Kaum jemand brachte also die Tatsachen so auf den Punkt wie das 18jährige Mädchen, auf dessen Initiative das Jugendzentrum Matrixx in Nieuw Sloten die Gedenktafel anbrachte: »Es ist kein Ausländerproblem, sondern ein niederländisches.«
Dem Linienrichter Richard Nieuwenhuizen wird es egal gewesen sein. Seine letzten Worte, übermittelt von einem Funktionär seines Clubs, der ihn im Krankenhaus besuchte, waren: »Was für ein Scheißfußball!«