Ulrich Seidl im Gespräch über die Ökonomie des Begehrens und seinen Film »Paradies: Liebe«

»Schönheit ist relativ«

Der österreichische Regisseur Ulrich Seidl spricht über das Attraktivitätsideal der Medien, die Ökonomie des Begehrens und seine Erfahrungen bei den Dreharbeiten zu seinem Film »Paradies: Liebe« in Kenia.

Sie legen stets Wert auf eine ausgeklügelte Inszenierung, Sie sind während der Dreharbeiten aber zugleich offen, auf Entwicklungen am Set einzugehen. Wie setzt man solche flexiblen Drehbedingungen, die auch Momente der Reflexion und inhaltliche Veränderungen möglich machen, eigentlich durch?

Indem man nicht gehorcht. Indem man sich nicht den Gegebenheiten fügt, die von anderen vorgegeben werden. Das sage ich jetzt so einfach. Dem liegt natürlich eine Arbeitsweise zugrunde, die ich über viele Jahre entwickelt habe. Meine Art zu arbeiten habe ich ja schon bei meinem ersten Kinofilm ausprobiert – und als der erfolgreich war, habe ich meinen Ansatz so fortgeführt. Die Geldgeber haben das meist akzeptiert, sicher aber auch nur, weil die Filme relativ erfolgreich waren. Wären die Filme nicht erfolgreich, würde man das mir sicherlich schnell untersagen und austreiben wollen. Jahre später bin ich dann auch mein eigener Produzent geworden, was einen größeren Grad an Unabhängigkeit geschaffen hat.

Welche Funktion hat das Drehbuch für Ihre Arbeit?

Es gibt das Drehbuch. Man braucht es auch, um etwas vor Augen zu haben, die richtige Besetzung zu finden, und auch für die Geldgeber. Aber ab dem Moment, wo ich mit den konkreten Vorarbeiten für den Dreh beginne, lasse ich mich auf das ein, was erarbeitet wird und was ich vorfinde. Dann geht es darum, was sich an den Schauplätzen, in den Milieus und mit den Schauspielern ereignet. Das produziert noch mal ganz andere Ideen und Erkenntnisse. Nach diesen Eindrücken werden Dinge verändert, verworfen, es werden andere Lösungen gefunden. Ähnlich ist es dann wieder beim Drehen. Es gibt kein Drehbuch am Set. Ich hab etwas im Kopf und orientiere mich dann an den Dingen, die geschehen, um zu entscheiden, was ich am nächsten Tag mache. Da ich chronologisch drehe, ist dies ein sehr intensiver Prozess, in dem sich vieles abspielen kann, was man mit einem Drehbuch natürlich überhaupt nicht vorher einschätzen kann. Und ich leiste es mir auch, zu unterbrechen. Ich nehme mir Zeit, neue Sachen zu erarbeiten, was auch mal eine längere Drehpause zur Folge haben kann.

Sie haben sich lange auf den Dreh in Kenia vorbereitet, sind mehrmals dort hingefahren, haben recherchiert und dabei auch einige der sogenannten Beachboys kennen gelernt. Eigentlich sind Sie vor allem als düsterer Chronist des österreichischen Alltags bekannt. Was hat Sie an Kenia gereizt?

Erstmal war das Thema da. Ich wollte über weiblichen Sextourismus arbeiten, und diesen findet man dort bekanntlich an einigen Orten. Letztlich habe ich mich nach langer Recherche für Kenia entschieden, weil ich den Eindruck habe, dass sich in diesem Land neben den Klischees des weiblichen Sextourismus noch einiges andere auftut. Da ist natürlich das Vorleben in dieser Gegend, die europäische Kolonialgeschichte, dann dieser wirklich krass in diese Gegenden verpflanzte Tourismus, dem eine krasse Armut der einheimischen Afrikaner gegenübersteht. All diese Widersprüche haben mich interessiert.

Sie zeigen die Unsicherheit und Verletzlichkeit sowohl der Beachboys als auch der Protagonistin, die nicht dem westlichen Schönheitsideal entspricht und sich in einer Midlife Crisis befindet. Sie heben beim Thema Sextourismus nicht den moralischen Zeigefinger.

Mir widerstrebt es völlig, hier den moralischen Zeigefinger zu heben und das Publikum aufzufordern, schockiert hinzuschauen. Ich versuche, etwas zu spiegeln und den Zuschauer dazu zu bringen, sich dazu zu positionieren. Wie, das ist seine Sache. Wenn man ehrlich ist, sind die dortigen emotionalen Tauschverhältnisse natürlich auch ein Spiegel unserer Gesellschaft. Das, was wir dort sehen, hat natürlich nicht nur mit der Protagonistin zu tun, die als Sextouristin dort runterfährt. Für die Zustände sind wir gleichermaßen verantwortlich. Die koloniale Vergangenheit und das Verhältnis von Weißen und Schwarzen als immer noch konstitutives Thema der Gegenwart sind in dem Film angelegt.

Wie immer in Ihren Filmen gibt es eine komplizierte Spannung zwischen Demütigung und Humor. Schaut man genauer hin, scheint es, dass das eine auch immer mit dem anderen zu tun hat.

Das ist etwas, was ich immer anstrebe. Ich finde es höchst spannend, Momente zu erzeugen, in denen der Zuschauer erst lacht – und ihm im nächsten Moment dieses Lachen im Halse stecken bleibt. Dann habe ich beides erreicht und einen ganz bestimmten Punkt, der mir wichtig ist, getroffen.

Sie haben mal gesagt, dass Sie es als legitim oder gar notwendig empfinden, das Publikum zu schockieren, weil sich dann ein Prozess entwickelt, durch den der Zuschauer vielleicht auch noch Tage danach über den Film reflektiert.

Leider kann das Kino nicht die Gesellschaft verändern, aber es kann das Bewusstsein verändern. Natürlich ist das auch angelegt, dass der Film Irritation und Verstörung auslöst. Dabei wird der Zuschauer auf sich zurückgeworfen und erlebt sich als Teil dieser Welt, für die er also auch verantwortlich ist. Durch den Schock ist sozusagen Nachhaltigkeit gegeben. Diese Nachhaltigkeit ist aber letztlich etwas sehr Konstruktives. Es wird sich mit dem, was in dieser Welt gespielt wird, auseinandergesetzt, was doch viel mehr ist, als einfach eine kurze Unterhaltung oder eine kurze Spannung.

Die Beachboys sind keine Schauspieler. Nicht nur in den Sexszenen gehen die Männer an Grenzen. Wie schaffen Sie solche Situationen, ohne die Akteure vorzuführen?

Ich habe große Erfahrung darin, mit solchen Situationen umzugehen. Ich habe schon viele Filme gemacht, wo Menschen das erste Mal vor der Kamera standen und sie das spielen, was sie gut kennen, weil es Teil ihrer Welt ist. In diesem Fall war es mir wichtig, Beachboys als Darsteller in diesen Film zu nehmen, die wirklich schon längerfristige Erfahrungen mit sogenannten Sugarmamas haben. Natürlich bestehen die Szenen aus meinen Absichten, aus Erkenntnissen, die ich glaube, gemacht zu haben. Aber eben mit Darstellern, die Erfahrungen haben, nicht nur mit dem ökonomischen Tauschverhältnis, sondern auch mit dem sexuellen Verhältnis zu einer älteren weißen Frau. Wie ich das erreiche, dass diese Beachboys sich auf solch einen Prozess einlassen? Ich kann nur sagen, ich habe einen Zugang zu diesen Menschen, das ist vielleicht eine meiner wichtigsten Eigenschaften als Regisseur, und ich nehme mir dafür sehr viel Zeit. Diese Menschen zu finden, ist ein ganz wichtiger Teil des Entstehungsprozesses meiner Filme. Bei »Paradies: Liebe« bedeutete das, dass ich innerhalb von zwei Jahren immer wieder nach Kenia gefahren bin und Beachboys kennengelernt und sie immer wieder getroffen habe. Letztlich weiß man bei so einem langen Prozess, wen man vor sich hat, und die andere Person kennt dann auch mich. So ist es möglich, auch schwierige Szenen zu realisieren, ohne dass die Darsteller davor zurückschrecken.

Auch die Performance von Margarethe Tiesel, die die Hauptfigur Teresa spielt, geht weit über das hinaus, was in Theaterkreisen »Mut zur Hässlichkeit« genannt wird. Sie haben einmal gesagt, dass Sie wirkliche Schönheit nur in der Imperfektion finden könnten.

Wie Margarethe Tiesel sich völlig in die Rolle der optisch nicht perfekten und auch sozial nicht perfekten Touristin begeben hat, ist natürlich toll. Diesen Mut haben die wenigsten Schauspieler. Ohne solche Menschen, die sich wirklich voller Courage auf gewisse Szenen einlassen, gäbe es den Film nicht. Ich halte das von allen Medien verordnete Schönheitsideal nicht aus, welches Altern und Einsamkeit komplett ausblendet. Wir leben längst in einer vollkommen verstellten Medienwirklichkeit, was Schönheit, Körperlichkeit und Sexualität angeht. Diese Verdrehung der Medien produziert doch erst die Einsamkeit solcher Frauen, die nicht mehr dem Stereotyp oder Alter entsprechen und dann Schwierigkeiten haben, überhaupt noch eine Beziehung zu führen, und auch deswegen nach Kenia fahren, um dort unter dem Schein des Geldes sich nochmal begehrt zu fühlen. Noch dazu werden Alter und körperliche Fülle außerhalb des Westens anders bewertet – demnach ist Schönheit eigentlich sehr relativ.

Während Teresa nach der großen Liebe sucht, wird ihr jedoch die Künstlichkeit des Tauschverhältnisses immer bewusster. Einmal erzählt sie, dass sie einem Lover ein Motorrad geschenkt hat, und nennt dies eine »Anlage«. Als sie bei ihm übernachtet, fragt sie ihn auch, wie viele weiße Frauen schon vorher in seinem Bett lagen. Aber die Suche nach Anerkennung geht trotzdem weiter.

Es gibt immer wieder Geschichten auch von Männern, die zu Prostituierten gehen und denken, sie würden die große Liebe finden. Bei ihr ist es ähnlich. Auch wenn ihr die Bedingungen, durch die sich Intimität dort überhaupt entwickeln kann, immer bewusst bleiben, sucht sie die große Liebe und handelt, wie sicherlich viele von uns, weiterhin im Verhältnis zu diesem romantischen Ideal. Doch sie wird enttäuscht, sie findet sie nicht.

Haben Sie den Film auch in Kenia gezeigt?

Das geht leider nicht. Wenn ich den Film in Kenia zeigen würde, würde ich wahrscheinlich verhaftet. Ich hatte genug Schwierigkeiten mit der Filmgenehmigungsbehörde, als die mitbekommen hat, was das für ein Film ist. Der Film entspricht nicht dem Image und dem öffentlichen Selbstbild, das die Kenianer von sich zeigen wollen. Das hat mit Demokratie nichts zu tun. Für sie ist Kenia ein malerisch schönes Land, wo es sowas nicht geben darf. Sie wissen natürlich, dass es all diese Dinge, die ich zeige, auch gibt. Das heißt aber nicht, dass man sie zeigen darf. Für gewisse Politiker ist der Tourismus auch eine wichtige Einkommensquelle. Das meiste Geld verlässt das Land ja wieder. Was wirklich schlimm zu erleben ist, ist vielmehr, wie sich die normalen Bewohner des Landes wegen des Geldes zu Untertanen der Weißen machen. Die weißen Touristen sind nichts anderes als eine Geldquelle, die man anzapft. Da sind alle Mittel recht, alle Verführungen, alles, was einem zur Verfügung steht, wird angewendet, um an dieses Geld zu kommen. Dass diese Menschen lügen müssen, um zu überleben, ist der eigentliche Horror.
Das produziert auch eine komische Mentalität. Das wurde mir erst mit der Zeit klar. Wenn dir jemand jeden Tag von einem neuen Unglück erzählt, was ihm oder seiner Familie widerfahren ist und weswegen er Geld braucht, glaubt man dem irgendwann nicht mehr und kommt sich verarscht vor. Mit der Zeit habe ich aber erst kapiert, dass das nicht als Lüge verstanden wird, sondern als Erfindungsreichtum, als Kreativität! Einmal habe ich zu einem Beachboy gesagt: »Hey, das stimmt doch alles nicht, ich hab doch deinen Bruder, der angeblich im Krankenhaus ist, eben erst gesehen!« Darauf hat er nur gelacht, das war total egal, geschämt hat er sich nicht.
Ein Großteil der Welt wird immer mehr in diesen Zustand transformiert. Man kann kaum noch reisen. Man ist nicht mehr der Gast, der eine wirkliche Begegnung macht. Einen wirklichen Austausch gibt es kaum noch. Man stellt diesen Touristen aus einem westlichen Land dar. Als Filmemacher bin ich privilegiert, ich arbeite mit Personen vor Ort für eine längere Zeit. Sonst bist du schon ab dem Moment, wo du einen Fuß ins Land setzt, als weißer Tourist abgestempelt.

Eigentlich, da zeigen sich ja wieder die Konsequenzen Ihrer Arbeitsweise, wollten Sie einen Film mit drei Frauenfiguren und -geschichten machen. Jetzt sind daraus drei Filme geworden.

Ja, ich wollte drei Geschichten aus der Perspektive verschiedener Frauenfiguren erzählen, drei Sehnsuchtsgeschichten, drei Frauengeschichten.

Was können wir von den kommenden zwei Filmen erwarten? »Paradies: Glaube« wird ja nur ein paar Monate später im Kino anlaufen.

»Paradies: Glaube« ist auch eine Sehnsuchtsgeschichte einer Frau im ähnlichen Alter. Sie ist die Schwester von Teresa und ist in Jesus Christus verliebt. Sie begreift Jesus nicht als Gottesfigur, sondern als realen Liebhaber, in den sie sich auch emotional und sexuell verliebt. Eines Tages wird sie aber mit der Wiederkehr ihres muslimischen Mannes konfrontiert, der an den Rollstuhl gefesselt ist und der wieder mit ihr leben will. Das bedeutet einen Konflikt zwischen ihrer Liebe zu Gott und ihrer Pflicht gegenüber ihrem Mann. Die dritte Geschichte ist die Geschichte eines fülligen Mädchens, das sich in einen älteren Mann verliebt. Diese Lolita-Geschichte findet in einem Diät-Camp statt, auf dem eine Menge junger Menschen mit der Angst konfrontiert werden, aufgrund ihres Körpers nicht anerkannt zu werden. Auch hier liegt eine Enttäuschung nahe, ich will aber noch nicht zu viel verraten.

Trotz Ungleichheit und Enttäuschungen – gibt es überhaupt noch Hoffnung?

Hoffnung gibt es immer, sonst würde ich auch keine Filme mehr machen.