Dirk von Lowtzow im Gespräch über 20 Jahre Tocotronic

»Für welches Produkt sollten wir werben?«

Dirk von Lowtzow lässt 20 Jahre Tocotronic Revue passieren. Wie alles begann, was gut und was schlecht war und wie es weitergeht. Außerdem erzählt er, wie das neue Album »Wie wir leben wollen« entstanden ist, weshalb die Band kein Kind von Helmut Kohl ist, warum er nicht auf Facebook und Guy Debord ein alter Sack ist.

Früher hieß es bei euch noch ironisch »Digital ist besser«, heute dreht sich der Diskurs bei Tocotronic ganz ernsthaft um den Enstehungsprozess des neuen Albums. Und die Reportage in der letzten Spex über die Band liest sich wie ein Beitrag in einem Musikproduzentenmagazin.
Die Spex wollte gerne eine große Geschichte machen, aber kein Interview oder kulturwissenschaftlich angehauchten Text, sondern eine klassische Reportage von jemandem, der uns begleitet, von Alpha bis Omega.
Habt ihr auch Musikfachmagazinen wie Sound & Recording Interviews gegeben?
Das haben wir dem Studiobetreiber Ingo Krauss zuliebe gemacht. Aber das ist tatsächlich ganz gut, wenn man so eine Geschichte hat, man weiß ja oft gar nicht mehr, was man zu den Alben überhaupt noch sagen soll. Und obwohl ich eigentlich null technikaffin bin, muss ich schon sagen, dass diese Aufnahmen etwas Besonderes waren.
Das neue Album »Wie wir leben wollen« klingt ziemlich verschwurbelt. Es gibt von Neil Young und seiner Band Crazy Horse ein neues Werk mit einer ähnlichen antiquierten Aufnahmetechnologie: Psychedelic Pill.
Unserer letzten Alben waren immer sehr live-mäßig. Wie das ja die Spezialität von unserem Produzenten Moses Schneider ist. Es wurde vom Sound her immer größer und größer. Das fand ich ehrlich gesagt viel Crazy-Horse-mäßiger. Aber irgendwann dachte man halt: Jetzt reicht’s auch mal!
Und dann hatten wir von Ingo Kraus und seinem Candybomber-Studio gehört. Zur gleichen Zeit kam dieses Beatles-Recording-Buch heraus und Moses wollte unbedingt dieses Experiment mit uns wagen. Und wir haben zugesagt. Ich wusste also schon beim Songschreiben, dass die Aufnahmen so Beatles-mäßig werden würden: also Beatles in Anführungszeichen. Wir sind ja auch alle große Fans von dieser psychedelisch-verschwurbelten Musik: Robert Wyatt, Pink Floyd, Syd Barrett usw.
Ihr habt die vorigen drei Alben in Berlin mit Moses Schneider aufgenommen, habt nun das vierte Album mit demselben Produzenten in derselben Stadt fertig gestellt, aber die sogenannte Berlin-Trilogie wurde schon beim letzten Mal für beendet erklärt. Das muss doch ein Heidenspaß sein, solchen Zuordnungs-Quatsch zu erfinden und in die Welt zu setzen?
Ja, uns hat das tatsächlich auch immer gewundert. Aber es ist eben so: Wenn du so etwas behauptest, dann nehmen das auch alle ernst. Beim letzten Album »Schall & Wahn« war es wirklich so, dass in Interviews alle Fragen nur noch um dieses Thema kreisten: »Eure Berlin-Trilogie ist ja nun abgeschlossen, wie geht es denn mit Tocotronic weiter?« Das war echt krass. Was mich in diesem Zusammenhang immer schon interessiert hat: Meinst du, dass George Lucas damals bei »Star Wars« tatsächlich schon die nächsten Teile in der Schublade hatte? Denn der erste Film wirkte ja in sich schon ziemlich geschlossen. Hat der also wirklich da schon gewusst, dass danach die nächsten zwei Teile kommen, zu einer Trilogie werden und dann später zu einer … Was ist das? Eine Sextologie?
Wohl vor allem eine Frage der Behauptung.
Das muss doch im Nachhinein so zurecht gestümmelt worden sein. Es sind doch meistens so komische Ordnungsprinzipien, die erst im Nachhinein entstehen. So geht es mir auch immer mit Rainald-Goetz-Büchern, wo dann hinten draufsteht, das ist die Werkgruppe so und so …
Es ist eurer Band in den 20 Jahren immer gelungen, sich für den Betrachter neu zu erfinden – ohne dass ihr euch wirklich neu erfunden habt.
Klar, man hat ja in Wirklichkeit immer dieselben Probleme. Der einzig wirklich große Bruch war, als Rick McPhail zur Band hinzu kam.
Ich habe immer euer »Weißes Album« als größten Bruch wahrgenommen, weil da plötzlich so ein hoch polierter Popsound entstanden ist.
Es war bei uns immer sehr viel glückliche Fügung im Spiel. Wo man das wirklich mal gewollt hat, also eine bewusste Veränderung herbeiführen wollte, war vielleicht bei dem »K.O.O.K.«-­ Al­bum. Da dachten wir: So kann es jetzt nicht mehr weitergehen. Man darf nicht vergessen, dass die ersten Alben innerhalb von weniger als zwei Jahren erschienen sind. Und da kam schnell das erste Epigonentum auf. Wo man einfach vollkommen missverstanden wurde. Gleichzeitig kam diese komische Popliteratur auf, die plötzlich auch irgendwelche Alltagsbeobachtungen zum Gegenstand machte. Was wir aber total blöd fanden. Das haben wir nicht gewollt. Damals dachten wir: Wir schmeißen jetzt mal die Trainingsjacken in die Tonne und kleiden uns ganz in Schwarz. Jetzt auch nicht besonders originell.
Eher konventionell vielleicht.
Ja, und wir flirteten plötzlich mit Hard-Rock- und Metal-Signaturen. Das Science-Fiction-Cover, die Panther-Shirts, der ganze Scheiß. Und das hat dann damals die Leute, die uns für sich vereinnahmt hatten, schon total verunsichert.
Die Single »Let there be Rock« nicht zu vergessen.
Genau, was im Grunde totale Appropriation-Art war. Das war natürlich schon noch die Band, aber eben ein bewusster Schritt in eine andere Richtung. Und dann kam Tobias Levin und es dauerte eben eineinhalb Jahre, bis das »Weiße Album« fertig war. Das konnte keiner ahnen. Und später war es dann glückliche Fügung, dass wir über Patrick Wagner von Surrogat Moses Schneider kennlernten. Da war viel Glück dabei. Manches passiert einem dann eben.
20 Jahre Tocotronic in drei verschiedenen Regierungsphasen der Bundes­republik Deutschland. Gehörst du auch zu der Fraktion, die sagt: Die Regierung Kohl war für Künstler die ­kreativste Zeit? Sind Tocotronic am Ende ein Kind Helmut Kohls?
Gute Frage. Glaube ich aber nicht. Als wir mit der Band angefangen haben, waren wir hauptsächlich mit uns selbst beschäftigt. Wie junge Leute eben so sind. Wir waren 22, 23 Jahre alt und gerade nach Hamburg gezogen. Von den politischen Bewegungen, seien es die schlimmen oder auch die guten, die es in Hamburg damals auch gab, war ich ziemlich unbeleckt. Vielleicht noch zu jung. Wir waren einfach sehr daran interessiert, uns selbst zu erfinden. Wir waren quasi damit beschäftigt unsere Band zu designen. »Fix und Foxi«-Hefte bekleben und Tocotronic drauf schreiben und so. Das war eher Konzeptkunst als Musik am Anfang, auch weil wir so schlecht spielen konnten.
Es ging nicht darum, sich an den politischen Verhältnissen abzuarbeiten?
Nee, würde ich nicht sagen. Aber dann später zur Zeit der Berlin-Trilogie, am Ende der rot-grünen Regierung, zur Zeit der Agenda 2010, aber eben auch der schrecklichen Re-Nationa­lisierung, als schon wieder über eine Radio-Quote debattiert wurde und dieser schrecklichen Kampagne »Du bist Deutschland« – die von der Werbeagentur Jung von Matt gestaltet wurde –, da schon! Da wurden plötzlich Magazine wie Neon lanciert. Die waren anfangs auch ziemlich nationalisiert und hatten gleich zu Beginn die 100 geilsten Deutschen im Heft oder die besten oder schönsten oder die »deutschesten« Deutschen. Dann natürlich die WM 2006 und diese Diskussionen um Deutschland als Opfer des Zweiten Weltkriegs. Ich habe diese Strömungen aber unabhängig von der Regierungskoalition wahrgenommen.
Dazu kamen diese ganzen neuen Deutschpop-Bands, Juli, Silbermond, Wir sind Helden, Mia.
Das war ein Klima, in dem ich »Aber hier leben, nein danke« schreiben musste, und auch ganz klar »Kapitulation«, was ja eigentlich schon ein ziemlich persönliches Lied war, aber auch ein antinationalistisches. Das hat man damals schon gemerkt, dass plötzlich in bürgerlichen Kreisen so ein Impuls da war: Jetzt ist auch mal gut mit entschuldigen. Das ging dann nahtlos über in so eine »Man wird das ja wohl mal sagen dürfen«-Haltung von Thilo Sarrazin. Das ist dann der Trick, sich als Mundtoter zu stilisieren, obwohl man aus dem Stegreif zwei Millionen Bücher verkauft. Immer diese Masche »Ich darf es nicht sagen, sag’ es aber trotzdem«.
2013 ist nun »Tocotronic-Jahr«. Steht so in einer Werbeanzeige eurer Plattenfima.
Wirklich? Das wird man ja wohl noch mal sagen dürfen …
Ihr habt 99 Thesen formuliert: »Wie wir leben wollen«. Die lesen sich allerdings nicht wirklich politisch, sondern eher dadaistisch oder situationistisch .
Ich muss ehrlich sagen, dass sie eher anti-situationistisch sind. Weil ich damit nicht mehr besonders viel anfangen kann.
Eine Parodie auf den Situationismus?
Ja, das könnte man vielleicht so sagen. Ich glaube schon, dass man das mal entsorgen müsste. Die Philosophin Juliane Rebentisch schreibt in einem tollen Aufsatz, dass man den Situationismus mal suspendieren müsse. Weil heutzutage in der neuen Ökonomie die totale Umkehrung dieser ganzen Debordschen Begriffe stattfindet, Kreativität, Flexibilität und der ganze Kram.
Munter hinein ins Event-Marketing.
Genau. Und das wird im Grunde genommen von jedem auch so praktiziert. Der ärmste Schlucker muss sich heute permanent neu erfinden. Mit wachen Augen durch die Stadt schreiten. Ich fand auch immer alle Wiederbelebungsversuche des Situationismus wie etwa »Der kommende Aufstand« nicht gut. Was so jemand wie Guy Debord mit so jemandem wie Ernst Jünger gemein hat: Er neigt so sehr zum Zynismus. Dieses »Ich stehe an der Bar, trinke meinen Absyinth und um mich herum zerfällt das Abendland«. Das finde ich ausgesprochen unangenehm. Außerdem war Debord ein sehr autoritärer Sack. Ich kann es natürlich trotzdem verstehen, dass man als junger Mensch die situationistischen Schriften toll findet. Aber ich würde gerne davon Abstand nehmen wollen.
Weißt du eine gute Alternative?
Dann lieber wieder einen so altmodischen Begriff wie Emanzipation. Die Frage lautet heute eben: Wie kann man trotz dieser ganzen Abschöpfungsprozesse selbstbestimmt leben, ohne in diese Selbstverwirklichungsfalle zu tappen: dieser ganze Kreativzwang! Und auch zu wissen, dass man als Künstler der Schlimmste von allen ist. Man ist schlimmer als jeder Banker. Wir sind doch die Typen, die dieses Lebensmodell überhaupt erst schmackhaft gemacht haben. Und das will die neue Ökonomie von uns allen! ­Malochen allein reicht nicht.
Glamouröses Malochen.
Glamouröses Malochen, ja. Und immer wichtiger wird vor allem: die Ununterscheidbarkeit von Arbeit und Freizeit.
Neue Medien spielen bei Tocotronic in diesem Zusammenhang weder in der Musikproduktion noch in den Texten eine Rolle. Sollte man die Medien nicht mitverhandeln, wenn man über gesellschaftliche Prozesse redet?
Davon verstehe ich zu wenig. Teile davon natürlich schon.
Aber findest du nicht, dass der Heimcomputer als Schnittstelle zum Internet wichtig geworden ist?
Doch, mit Sicherheit. Aber ich glaube, das würde auch ohne das Internet stattfinden. Ich bin selbst nicht bei Facebook oder so, aber so schrecklich neue Prozesse sind das nicht wirklich, die dort stattfinden. Großartig anders als das Zusammentreffen im Rotary Club verstehe ich das jetzt nicht. Das sind doch alles recht ähnliche soziale Vorgänge. Ach, ich bin einfach so wahnsinnig computerphobisch.
Bleiben wir trotzdem bei der Technik: Ende der siebziger Jahren kostete beispielsweise ein Fairlight-CMI-Sampler 18 000 britische Pfund. Heute trägt jeder einen brauchbareren Sampler im Smartphone bei sich. Quasi umsonst.
Klar, das stimmt alles. Aber da bin ich nicht so dran. Ich bin wirklich ein super Techniklegastheniker. Bin da total demotiviert und desinteressiert. Keine Ahnung, ob das familiär bedingt ist. Bei uns zu Hause hatte niemand einen grünen Daumen für die Technik. Es ging immer alles nur kaputt. Als Rockband muss man auch heute noch in ein Tonstudio gehen, egal ob man jetzt analog oder digital aufnimmt. Die Vorgänge bleiben die gleichen. Aber natürlich setzt das auch ein gewisses Budget voraus. Gute Studios sind immer noch wahnsinnig teuer.
Im Postpunk, Techno oder HipHop wird durchaus unter extrem günstigen Produktionsbedingungen innovative Musik gemacht. Vom Folksänger ganz zu schweigen.
Ja, klar. Ich finde nur, eine Rockband kann man schlecht billig aufnehmen. Im Proberaum geht das natürlich. Aber dann klingt es oft nach einer Garagenband.
Euer Produzent Moses Schneider hat ein Handbuch herausgegeben: Wie nehme ich meine Band im eigenen Proberaum auf.
Finde ich auch toll. Aber dann muss man es dennoch auch können. Moses’ Handbuch in Ehren, aber ich weiß nicht, ob das Bands auch tatsächlich so machen können. Es ist ein bisschen so, wie nach Kochbuch zu kochen. Das kann ich übrigens auch nicht.
Wo wir bei den Produktionsverhältnissen sind: Du hast in den letzten 20 Jahren viele Bands kommen und gehen sehen. Zum Beispiel JaKönigJa, die auf eurem neuen Album wieder als Gastmusiker zu hören sind.
Bei denen war irgendwann das Livespielen zu teuer. Die hatten so viele Musiker auf der Bühne und einfach zu wenig Publikum, um diesen Aufwand zu finanzieren. Wirklich eine Schande. Es ist zwar eine sehr schrullige Musik, auch mit einem sehr schrulligen Humor, aber einfach sehr toll. Ebba Durstewitz von JaKönigJa und ich pflegen übrigens einen regen Austausch, was unsere Texte angeht. Ich empfinde da auch eine gewisse Geistesverwandtschaft.
Aber du bist etabliert, Ebba kennt kein Schwein.
Es ist aber auch ihre Art zu singen, so etwas kennt man in Deutschland einfach nicht. Da fällt mir nur noch Michaela Melián von F.S.K. ein, die so singt. Dieses Nico-artige. Da fehlt mir der Fachausdruck, wie man diese Art zu singen nennt. Es wird jedenfalls nicht rumgeschnulzt. Das finden, glaube ich, viele Leute komisch. Wir werden oft gefragt, ob wir uns jetzt ein bisschen alleine fühlen. Das ist natürlich eine sehr darwinistische Auffassung. Es gibt eine Menge Leute, die mit uns angefangen haben, wie z.B. eben JaKönigJa. Aber Jakobus und Ebba sind immer noch da. Und es gibt abgesehen davon auch viele junge Bands, die man toll findet. Wir hatten aber das Glück, uns nie nur für Musik zu interessieren, sondern etwa auch für Bildende Kunst. Da gibt es eben auch sehr viele tolle Weggefährten, mit denen wir über Jahre schrulliges Zeug zusammen machen konnten. Wie Cosima von Bonin zum Beispiel.
Hat dich der Kunstmarkt eigentlich nie angeekelt?
Mit dem Kunstmarkt selbst hatte ich nie so schrecklich viel zu tun. Ich hatte immer über die diskursive Seite einen Zugang zur Kunst. Über das Schreiben für Texte zur Kunst zum Beispiel. Die Zeitschrift ist nicht wirklich kunstmarktaffin. Die Künstler, über die man dort schreibt, sind selten erfolgreich. Und ja: Der Kunstmarkt ist mit Sicherheit pervers. Aber wenn man an den Musikmarkt denkt oder den Immobilienmarkt oder welchen Markt auch immer, die sind auch nicht wirklich ­gesünder.
Nach der Pleite eures Indielabels Lado wurde viel darüber diskutiert, dass ihr dann zu Universal, also zu einer Major-Company, gegangen seid. Allerdings hatte Lado früher auch Lizenzen für eure Platten an Motor-Music verkauft. War das ein Glücksfall, also als Indieact wahrgenommen zu werden und Major-Kohle im Rücken zu haben?
Für Lado war das gut, für uns war das schlecht. Als wir damals die Verträge unterschrieben haben, konnten wir nicht wirklich damit rechnen, dass wir damit erfolgreich werden würden. Keine Lado-Band war damals wirklich erfolgreich. Und dass Lado unsere Alben damals an Motor weiter lizensiert hat, hat uns finanziell nichts gebracht. Man hat uns damals für ’nen Appel und ’nen Ei bekommen, auf Gutdeutsch.
Aber der große Partner wird schon ordentlich Geld für die Vermarktung ausgegeben haben, oder? Das kann ein kleines Label gar nicht in dem Maße leisten.
Das stimmt natürlich. Aber wir waren damals einfach naiv. Nach heutigen Kriterien hätte man so einen Vertrag nie unterschreiben dürfen. Da hätte man neu verhandeln müssen. Weil eben das kleine Label unsere Musik an ein großes lizenziert hat. Das haben wir nicht als besonders schön empfunden. Vor allem weil uns damals diese Indie-Denke schon viel wichtiger war. Es war uns eher peinlich.
Dann ging es von Lado/Motor zu Zomba, die gehörten damals Bertelsmann, heute Sony-BMG, und hatten damals ganz frisch den deutschen Indie-Vertrieb Rough Trade in Herne aufgekauft. Zomba waren durch Hip­Hop, aber auch durch Pop-Acts wie Britney Spears zu unfassbar viel Reichtum gekommen.
Du bist ja besser informiert als ich. Ich habe das schon alles längst wieder vergessen. Da gab es aber nur ein Album bei Zomba, glaube ich. Das war das »Weiße Album«. Dafür haben wir damals tatsächlich einen adäquaten Vorschuss bekommen. Der floss nur dummerweise fast vollständig in die Studioproduktion. Dann waren wir nur noch bei Lado im Vertrieb von Rough Trade, die aber schon wieder jemand anderem gehörten, glaube ich. Und dann wurden bei Lado in der Vorbereitung zu »Kapitulation« schon die Aktenorder herausgetragen … Die Ironie des Schicksaals.
Das Ende von Lado hat eine großes Loch in die Hamburger Musikszene gerissen.
Carol von Rautenkranz war ein großer Musik­lover und auch ein großer Visionär. Er hat über Jahre tolle Arbeit geleistet und auch viele großartige Bands herausgebracht. Ich hatte damals wahnsinnige Angst vor dem Schritt zum Majorlabel, davor, plötzlich ohne Indielabel zu sein
Für eine Nischenband hat Tocotronic eine gigantische Größe erreicht. Für den sogenannten Mainstream bis heute nicht. Kann man das so sagen?
Das kann man so sagen. Gerade deshalb finde ich es heute sehr wichtig, bei Festivals wie »Rock am Ring« zu spielen. Weil ich dieses Nischendasein allein zu gemütlich finde. So schön ist es natürlich jetzt nicht bei solchen Festivals, das ist klar. Aber ich finde es eben künstlerisch wichtig da auch aufzutauchen.
Mittlerweile kann sich die Band auch bei einem solchen Festival als Rockband behaupten.
Klar, dennoch gibt es immer wieder absurde Situationen. Da spielst du auf der Nebenbühne im Regen vor ein paar Leuten »Aber hier leben, nein Danke«, während auf der Hauptbühne Rammstein in den Startlöchern stehen. Aber gerade diese Absurditäten finde ich wichtig, dass man die auch mal sieht. Das hat uns als Band immer interessiert. Aus dieser Nische herauszugehen. Dahin …
... wo es weh tut?
Ja, nein das wäre mir auch wieder zu masochistisch. Einfach dahin, wo man nicht so ein gutes Gefühl hat. Das will ich nicht zum Prinzip ernennen. Sicherlich muss man bei diesen Dingen auch generell über die Finanzierung eines Musikerlebens reden. So ein großes Festival bringt eben auch großes Geld.
Für dessen teilweise fragwürdige Sponsoren im Hintergrund sich heute auch keiner mehr interessiert.
Es ist eben ein bisschen so: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Das ist ein offenes Geheimnis: Wir haben es als Band in den letzten 20 Jahren leider nicht geschafft große Reichtümer anzuhäufen.
Ständig neue Platten zu machen und die damit verbundenen Touren und Festivalauftritte, das ist auch heute noch überlebensnotwendig für euch?
Absolut. Insofern wird das auch nicht mehr diskutiert, ob wir bei solchen Festivals spielen oder nicht. Als wir mit der »K.O.O.K.«-Platte zum ersten Mal auf so einem Festival gespielt haben, haben wir im Vorfeld wirklich lange darüber diskutiert. Aber es gibt eben heute eine Notwendigkeit.
Eure Musik für Werbung herzugeben wäre eine Alternative. Für Mobilfunkanbieter zum Beispiel.
Klar, vor Jahren noch als äußerst unkoscher wahrgenommen, aber heute gibt es durchaus akzeptable Bands wie Grizzly Bear oder was weiß ich, wen man da heute noch alles in der Werbung hört.
Würdet ihr einen Tocotronic-Song dafür hergeben?
Aufgrund unserer Inhalte wurde uns diese Frage bisher noch nicht gestellt. Ich glaube, ich würde es nicht machen. Aber nehmen wir einen Song wie »Kapitulation«, für welches Produkt sollte das sein? Für welches Produkt sollten wir werben? Außerdem glaube ich, dass man da als deutschsprachiger Künstler sowieso keine Chance hat. Das muss schon etwas Internationales sein.
Oder man geht ans Theater.
Ja, warum nicht. Es ist kein Zufall, das Bands wie Kante im Theater landen. Die Theatermacher sind dann tatsächlich auch Fans von solchen Bands. Es ist zwar schade, dass man so eine tolle Band wie Kante sonst kaum mehr sieht, aber ich finde diesen Schritt nachvollziehbar. Mit Tocotronic hatten wir immer das Glück, nie sonderlich weit planen zu müssen. So wie das junge Musiker heute machen: Erstmal vier Jahre zur Popuni und dort einen Businessplan erstellen. Wir hatten noch das Glück, die Sachen einfach so en passant machen zu können. Wir haben immer den Luxus gehabt, nie darüber nachdenken zu müssen. Das ist ja heute ein richtiges Berufsbild: der Rockmu­siker.
Und man wurde schließlich Rockmusiker, weil man keinen Bock auf Arbeit hat.
Klar, man hatte keinen Bock darauf! Oder auf die Universität. Heute gibt es eben den »Neuen Geist des Kapitalismus«, um Luc Boltanski zu zitieren. Aber wenn du heute Rockmusiker im klassischen Sinne werden willst, dann bist du eigentlich auf Lebzeiten zum Prekariat verdammt, oder?

Tocotronic: Wie wir leben wollen. Vertigo/Universal