Der fiscal cliff und die Weltökonomie

Die S-Bahn-Surfer

Die Republikaner nehmen die US-Wirtschaft als Geisel, um ihr marktradikales Programm durchzusetzen.

Als vor vier Jahren der Finanzmarktkollaps und in dessen Gefolge der Totalabsturz der Weltwirtschaft drohte, reagierten die Regierungen und Zentralbanken der wichtigen kapitalistischen Länder noch prompt und konzertiert. Überzeugt, es mit einer einmaligen Ausnahmesituation zu tun zu haben, die Ausnahmemaßnahmen notwendig machte, wahrte das Lager der Herrschenden zunächst allgemeinen Burgfrieden. Für die Rettung des kapitalistischen Gesamtladens war man quer durch die politischen Lager international bereit, Sonderinteressen und eigene ideologische Vorbehalte zurückstellen. Wenn es irgendeinen Moment in der Geschichte des Kapitalismus gab, in dem so etwas wie ein globaler ideeller Gesamtkapitalist zu existieren schien, dann in den Monaten nach der Lehmann-Brothers-Pleite.
Seit 2008 jagt eine Rettungsaktion die andere, und doch ist nicht mehr zu erreichen als eine neuerliche Gnadenfrist. 2013 droht dem kapitalistischen Weltsystem ein weiterer großer Krisenschub. Nicht genug, dass sich die durch die Nullzinspolitik und das deficit spending der vergangenen Jahre bewirkten Wachstumseffekte erschöpft haben und die Weltkonjunktur schwächelt; hinzu kommen gleich drei Gefahren: Chinas Finanzblase, die ungelöste und unlösbare Euro-Krise und die US-amerikanische Staatskreditkrise, die in eine neue Runde geht.
In dem Maß, wie der vermeintliche ökonomische Ausnahmezustand zum Normalzustand geworden ist, nimmt unter Rechten die Bereitschaft ab, zugunsten des weltkapitalistischen Ganzen Abstriche bei den Klientelinteressen und der Durchsetzung der eigenen ideologischen Vorstellungen zu machen. Bislang knickte in Europa Angela Merkel lieber ein, als den Euro-Absturz zu riskieren, und verpflichtete ihre Partei auf diese Linie. Wird es aber bei dieser Prioritätensetzung bleiben? In den USA verfolgen Teile der Republikanischen Partei längst nach dem Motto »Wer zuerst zurückschreckt und einsteigt, hat verloren« eine knallharte S-Bahn-Surfer-Politik: Einflussreiche Kreise der Republikaner nutzen die Gunst der Krisenstunde und nehmen die US-Wirtschaft als Geisel, um ihr marktradikales Programm durchzusetzen.
Die Republikaner haben zum Jahreswechsel zwar einem »Kompromiss« zugestimmt; das ersparte den USA zunächst das Inkrafttreten automatischer Haushaltskürzungen und Steuererhöhungen, die nach UN-Schätzungen zu einer Halbierung des globalen Wachstums geführt hätten. Das bedeutet aber keineswegs ein Ende der Geiselnahme, sondern ist taktisches Geiselnehmerkalkül. Die Marktradikalen haben mit dem Kompromiss ihre Ausgangsposition für den in zwei Monaten anstehenden eigentlichen Showdown deutlich verbessert. Ende Februar wird die bisherige, gesetzlich festgelegte Verschuldungsobergrenze von 16,4 Billionen Dollar überschritten, und die USA wären ohne deren neuerliche Korrektur, der auch das von den Republikanern beherrschte Repräsentantenhaus zustimmen muss, zahlungsunfähig. Nachdem die Obama-Administration sich diesmal mit bescheidenen Einkommenssteuererhöhungen für wenige Spitzenverdiener zufriedengegeben hat, wird es den Demokraten schwerfallen, dann Nachbesserungen durchzusetzen. So trägt die Krisenverwaltung vor allem die Handschrift der mit dem Amoklauf liebäugelnden Opposition.