Hungerstreik von Flüchtlingen in Lille

Entscheidung nach Aktenlage

Auf einen Hungerstreik von Migranten reagierte die französische Regierung mit Abschiebungen und vagen Zusagen.

73 Tage Hungerstreik – diese Strapaze haben 40 Einwanderer aus Marokko, Algerien, Guinea und Thailand im nordfranzösischen Lille hinter sich. Am Sonntagabend gaben sie den Abbruch ihrer Aktion bekannt, kurz bevor sie tödliche Konsequenzen für einige ihrer Teilnehmer hätte haben können.
Am Montag bauten freiwillige Unterstützer das Zelt ab, in dem die Protestierenden über zwei Wochen verbracht hatten und in dem es nicht nur für die vom Hungerstreik Geschwächten mitunter eiskalt war. Am 2. November hatten 125 Einwanderer, die vom französischen Staat in illegalisierter Situation gehalten wurden, den Hungerstreik begonnen. Wegen schwerer gesundheitlicher Probleme hatten viele Teilnehmerinnen und Teilnehmern ihn am 19. Dezember abbrechen müssen.
Wer erwartet hatte, die sozialdemokratische Regierung würde auf derartige Proteste anders reagieren als ihre konservative Vorgängerin, wurde enttäuscht. Innenminister Manuel Valls bemühte sich offenkundig nach Kräften, Härte zu demonstrieren. Am 58. Tag des Hungerstreiks veranlasste die Präfektur von Lille, dass zwei der Hungerstreikenden, die beiden algerischen Staatsbürger Ahmed und Azzedine, in ihr Herkunftsland abgeschoben wurden. Der Präfekt ist der Vertreter des Zentralstaats und Leiter der Polizei- und Ausländerbehörden im Bezirk, er untersteht dem Innenministerium und ist weisungsgebunden. Er kann also auf keinen Fall gegen den Willen des amtierenden Ministers handeln.

Am frühen Morgen des 30. Dezember wurden die beiden in ein Flugzeug gesetzt, an den Händen gefesselt und mit Klebeband geknebelt. Theoretisch war die Abschiebung zu diesem Zeitpunkt ­illegal, da das in der Sache angerufene Gericht in Douai noch nicht entschieden hatte. Aufgrund ihres körperlichen Zustandes waren die Algerier zudem nicht reisefähig. Nach ihrer Ankunft in Tizi Ouzou wurden sie medizinisch behandelt, einer von ihnen lag bei Redaktionsschluss noch im dortigen Krankenhaus.
Lille ist seit langen Jahren ein Zentrum von harten Kämpfen der Illegalisierten, auch Hungerstreiks haben dort eine gewisse Tradition. Im Herbst 1998 fand bereits ein längerer Streik statt, im Jahr 2007 ein weiterer, auf den die damalige rechte Regierung zum ersten Mal mit Abschiebungen während eines laufenden Hungerstreiks antwortete.

Zur Unterstützung des jüngsten Hungerstreiks fanden einige spektakuläre Aktionen statt. Neben Demonstrationen in Lille, in Paris und vor kurzem auch in anderen Städten wie Straßburg und Saint-Nazaire kam es zu Besetzungsaktionen. In Paris etwa wurde am Silvestertag die päpstliche Nuntiatur, die Botschaft des Vatikans, und am 3. Januar das Parteigebäude der regierenden Sozialdemokratie besetzt. In Lille wurde gleichzeitig das Rathaus okkupiert. Seit Beginn der darauffolgenden Wochen fanden täglich Kundgebungen in Paris und Lille statt, da die Situation der Hungerstreikenden sich zuzuspitzen drohte. Einige Aktionen gehen weiter, da die Auseinandersetzung noch nicht zu Ende ist. Die Hungerstreikenden kämpften um Aufenthaltstitel. Am Wochenende hat der Präfekt jedoch lediglich »eine wohlwollende Bearbeitung der individuellen Akten« aller Teilnehmenden zugesagt. Mehr war zu dem Zeitpunkt nicht herauszuholen, ohne Todesfälle unter den Hungerstreikenden zu riskieren.
Das Vorgehen war auch eine Reaktion auf die ministerielle Verordnung zur »Legalisierung« von sans papiers – Einwanderern ohne Dokumente – vom 28. November. Diese ist in genau definierten Einzelfällen möglich, etwa für Eltern schulpflichtiger Kinder, wenn diese seit mindestens drei Jahren eingeschult sind. Oder für lohnabhängig Arbeitende, aber unter der Voraussetzung, dass sie seit einer Mindestzeit beschäftigt sind und der Arbeitgeber ihre Legalisierungsforderung unterstützt. Dies ist aber keineswegs garantiert und die Betreffenden sind von ihrem Arbeitgeber abhängig. Jene, die in Lille protestierten, gehören zu den von der Reform Ausgeschlossen.