Blick in einen deutschen Abgrund

Das nennt man einen Scoop, zu Deutsch einen journalistischen Knüller: Der Zeit-Journalist Bernd Ulrich hat Sigmar Gabriel zum Reden gebracht. Nicht, dass der SPD-Vorsitzende den immer unbeliebteren Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück verteidigt oder einen anstehenden Regierungswechsel herbeiphantasiert hätte. Beides wäre keiner Erwähnung wert. Dem stellvertretenden Chefredakteur der Wochenzeitung ist vielmehr das Kunststück gelungen, einen Einblick in Gabriels Innerstes zu gewähren: Seine ganz persönliche Familiengeschichte, sie ist nun für jedermann einsehbar. Und wer sich mit der Biographie des 53jährigen beschäftigt, der blickt in einen deutschen Abgrund.
Gabriels Kindheit glich einem Albtraum. Denn Vater Walter war bis zu dessen Tod im Sommer 2012 nicht nur ein verbohrter Nazi, sondern auch ein tyrannischer, kaltherziger Patriarch. Immer wieder gab es Prügel, das Spielzeug wurde bei schlechten Noten an die Kita verschenkt, der Kontakt zur geschiedenen Mutter zeitweise verhindert – unter dem Despoten litt der Sohn viele Jahre lang. Und das hat Gabriel geprägt. Abgesehen von der schmerzhaften Erinnerung ist nach eigenem Bekunden vor allem eines übrig geblieben: ein fast unbändiger Zorn. »Wenn ich etwas als ungerecht empfinde, wenn Menschen Unrecht geschieht, kann ich mich richtig aufregen.«
Nun sind Gabriels Wutausbrüche ja hinlänglich bekannt und wurden bisher nicht selten als aufgesetztes Sozigehabe abgetan. Heute, im Wissen um die Biographie, wirken sie allerdings um einiges glaubwürdiger. Wer eine derartige Geschichte hinter sich hat, wer am eigenen Leib körperliche und seelische Verletzungen erfahren hat, der zieht daraus seine Konsequenzen. Links sein, SPD-Mitglied werden – das war für Gabriel offenbar eine fast schon zwingende Selbstverständlichkeit.
Nun stellt sich in einer Mediengesellschaft wie der unsrigen bei einer derartig selbstentblößenden Geschichte rasch die Frage nach dem Motiv. Was treibt Gabriel an, gerade jetzt aller Welt seine schwere Kindheit zu offenbaren? Verspricht sich der SPD-Vorsitzende etwas davon? Teilt er sich der Öffentlichkeit mit, um sie für sich einzunehmen? Man ist versucht, in Gabriels Offenheit etwas Berechnendes zu erblicken. Schließlich ist der Mann ein ausgebuffter Politiker. Geht es darum, Mitleid zu heischen? Mag sein. Mag aber auch nicht sein. Gabriel hat lange gebraucht, um sein eigenes Leiden unter dem Vater, der erst im letzten Juni verstorben ist, publik zu machen. Und er tut dies in einer hierzulande ungewöhnlich offenen Art und Weise. Nein, das wirkt nicht berechnend, sondern: angenehm authentisch.