Owen Hatherley im Gespräch über Pulp und Jarvis Cocker

»Blur und Oasis sind Karikaturen«

Für den britischen Musikjournalisten Owen Hatherley sind Pulp die letze Britpopband mit Klassenbewusstsein. In seinem Buch »These Glory Days« porträtiert er die Band um den Leadsänger Jarvis Cocker, die Mitte der Neunziger wichtig wurde.

Owen Hatherley ist mit den Büchern »Militant Modernism« und »A Guide to the New Ruins of Great Britain«, einer Geschichte brutalistischer Architektur und modernistischer Ästhetik, bekannt geworden. Sein nun auf Deutsch erschienenes Buch »These Glory Days. Ein Essay über Pulp und Jarvis Cocker« ist eine klassische Biographie der Band aus Sheffield, die zumeist in einem Atemzug mit Blur und Oasis als Britpopband genannt wird. Im Buch erfährt man eine Menge über Art Schools, Cool Britannia, New Labour, die britische Klassengesellschaft, die Zerstörung des wohlfahrtsstaatlichen Klassenkompromisses, über die Gewerkschaften, frustrierenden Sex und nicht zuletzt über die Common People, die dem wohl berühmtesten Song von Pulp den Titel liehen.

In Ihrem Essay schreiben Sie, dass die britische Jugend Mitte der neunziger Jahre, mit einem Premierminister an der Spitze der Regierung, der ein bekennender Fan von The Smiths und The Jam war, die wohl apolitischste Generation des 20. Jahrhunderts gewesen sei. Die Band Pulp stehe dagegen für Utopien und Alternativen zum Kapitalismus. Sie schrecke nicht davor zurück, die Begriffe Sozialismus und Klassenkampf in den Mund zu nehmen und sei ­damit sogar erfolgreich gewesen. Wie geht das zusammen?
Pulp waren kein Kind der neunziger Jahre, sie stammen aus einer früheren Ära und veröffentlichten bereits seit 1983 Platten. In der Tat ist es ein interessantes Phänomen, dass sie dennoch die Generation Mitte der Neunziger ansprachen, während ihre eigenen Wahrnehmungen, Referenzen und Erfahrungen bereits in einer Zeit ausgebildet wurden, als es noch Alternativen gegeben hat. Mich hat an der Band interessiert, dass Themen wie Sex, Stadt, Klassenwut, Cool Britannia und New Labour im Vordergrund stehen, vor allem in ihrer interessantesten Phase, in ihrer Glam-Pop-Phase von 1989 bis 1995. Außerdem fand ich, Pulp hätten es verdient, ernster genommen zu werden, da sie oft nur sehr plump und oberflächlich im Stil von »Der Pop-Perverse Jarvis liebt Acryl« oder »Jarvis zerfetzt Blair auf der B-Seite« oder gar nicht rezipiert wurden.
Seit wann interessieren Sie sich für Pulp? Waren Sie schon in Ihrer Jugend ein Fan der Band?
Pulp waren für mich zunächst gar nicht so wichtig. Nun gut, ich war auf einem Pulp-Konzert im Wembley-Stadion im Januar 1996. Das war ein oder zwei Wochen nach dem Michael-Jackson-Vorfall …
… als Jarvis Cocker aus Protest gegen die Ehrung von Michael Jackson bei der Verleihung der Brit Awards auf die Bühne kam, während Jackson das Stück »Earth Song« sang ...
... und die Konzerterfahrung war irgendwie seltsam und befremdlich. Ich hatte die Platten von Pulp und mochte sie schon ein, zwei Jahre, bevor es mich dann komplett erwischte. Der Grund war, dass ich eine ganz bestimmte Erfahrung gemacht habe. Ich bin in einem Vorort von Southampton mit vielen Hochhäusern und Caritas-Läden aufgewachsen. Die Songs auf den beiden Pulp-Platten »Intro« und »His’n’Hers« sind für mich mit diesem Ort verbunden, ich finde ihn in den Texten wieder. Diese Erinnerung ist mir geblieben und hat auch meine Sicht auf die Welt geprägt, bis heute. Andere Bands, wie zum Beispiel die Manic Street Preachers, die für mich als Teenager wichtig waren, interessieren mich heute nicht mehr. Das liegt auch daran, dass die Art und Weise, wie Pulp über Klasse sprachen, sich mit den Erfahrungen deckt, die ich in meiner Jugend mit dem Klassensystem gemacht habe. Aber auch musikalisch waren Pulp um einiges einfallsreicher als die meisten anderen Britpopbands. So war ihr Sound für die Mitte der neunziger Jahre recht ungewöhnlich. Es ist ein wunderbarer und unterschätzter Sound, der wohl vor allem von der Keyboarderin Candida Doyle geprägt wurde.
Schon früher hatte ich ein paar Mal über Pulp auf meinem Blog geschrieben und dann entwickelte sich das weiter. Irgendwann kam ein Buch dabei heraus. Pulp planten eine Reunion, und ich dachte: Jetzt wäre es eigentlich an der Zeit.
Pulp sind für Sie eine der letzten Art-School-Bands, die sich ihrer Klasse bewusst sind. Sie zitieren Jarvis Cocker, der sagte, dass er sich nicht wie einer aus der Arbeiterklasse gefühlt habe, bis er in den späten achtziger Jahren am Londoner St. Martin’s College studierte und mit den Kommilitonen aus der Mittelklasse und deren Privilegien in Berührung kam. Im Unterschied zu Damon Albarn, dem Sänger von Blur, der ab 1993 offensichtlich, genau wie der britische Premierminister Tony Blair, versuchte, Cockney zu sprechen und möglichst kerlig rüberzukommen, unterhielten Pulp ein recht ambivalentes und differenziertes Verhältnis zur Arbeiterklasse. Lag das auch daran, dass man als lumpenproletarischer Künstler bei der Working Class nicht unbedingt auf viel Gegenliebe stieß?
Wie schon gesagt, gehörten Pulp nicht zur Thatcher-Generation, sondern entstammen einer früheren Ära. Die These meines Buches ist, dass das Klassenbewusstsein der Band mit all seinem Unbehagen durch die Erfahrung, zwischen den Klassen zu stehen, geschärft wurde. Pulp interessieren sich mehr für den Ort, wo die unterschiedlichen Klassen aufeinander stoßen. Wenn man den sozialen Hintergrund der Bandmitglieder und auch ihre Erfahrungen als Band, die in den achtziger Jahren ums Überleben kämpfte, berücksichtigt, dann kann man sie sowohl als Working-Class- wie auch als Middle-Class-Gruppe bezeichnen. Oasis waren immer »nur« Working-Class- bzw. Vorstadt-Band. Blur sind eine reine Mittelschichtsband. Pulp hingegen schafften es, zu beschreiben, was es heißt, als Mitglied der Arbeiterklasse oder der unteren Mittelschicht aus der Provinz auf die Besitz-Bourgeoisie und ihre Privilegien zu stoßen, wobei in den Texten sowohl die Anziehung als auch der Ekel dieses Aufeinandertreffens beschrieben werden. Sie konnten also sowohl überzeugend das Londoner Boheme-Leben als auch das Provinzdasein in Sheffield schildern. Blur und Oasis sind eher Karikaturen, Blur eine unauthentische, Oasis eine authentische. Zudem waren die Sheffielder Musikszene und das Kulturleben der Stadt historisch gesehen auch viel mehr von der Arbeiterbewegungskultur geprägt als die meisten anderen Städte in England. Stärker als anderswo gab es dort so etwas wie ein Bewusstsein der Arbeiterklasse, und das färbte auf die Sheffielder Bands bis zu einem gewissen Grad ab.
Sie sprechen in Ihrem Buch von einer geprellten Generation, die mit Versprechungen von sozialer Verbesserung und Reformen an der Nase herumgeführt wurde.
Sheffield war nach dem Krieg eine Stadt, die eine echte Hoffnung für den kommunalen Sozialismus bedeutete, der sich in der großen modernistischen Stadtplanung manifestierte. Als in den achtziger Jahren die Stahlwerke abgebaut wurden und es zu Streiks in den nahegelegenen Minen in South Yorkshire kam, wurde Sheffield zu einem Zentrum der Linken, an deren Rathaus eine roten Fahne flatterte. In den frühen neunziger Jahren war die Linke besiegt worden, und der kommunale Versuch wurde aufgegeben.
Dies betraf in gewisser Weise auch Pulp. Ich bin mir nicht sicher, ob es ihnen schon immer bewusst war. Eine Anekdote des Gitarristen und Violinisten Russell Senior bringt das sehr gut auf den Punkt. Er erzählt, dass er in seiner Jugend in der Lokalzeitung einen Artikel über »Sheffield: City of the Future« gelesen und als Erwachsener herausgefunden habe, dass die Bandmitglieder die einzigen Menschen gewesen seien, die daran geglaubten hätten. So finden sich bei Pulp immer wieder diese Zukunftsvisionen, die wie Seifenblasen zerplatzen. Pulp reden nicht immer explizit über diese modernistisch-urbanistischen Hoffnungen, sie sind omnipräsent in den Texten, wenn man sich zum Beispiel Songs wie »Sheffield Sex City«, »Inside Susan«, »My Legendary Girlfriend« oder »Wickerman« anhört.
Sexueller Frust und gesellschaftliche Unterdrückung spielen eine wichtige Rolle in Jarvis Cockers Texten. Dem Sänger wurde aber auch immer wieder Sexismus vorgeworfen. Zu recht?
Das ist schwierig. Auf der einen Seite finden wir in seinen Texte sicherlich Darstellungen aus weiblichem Blickwinkel, die fast schon einzigartig in in der Popmusik sind. Kaum eine Figur ist so differenziert und fein gezeichnet wie Susan in dem Song »Inside Susan«, aber das gilt auch für die verschiedenen Vorstadt­figuren auf der Platte »His’n’Hers«. Ihre Gedanken, ihre Obsessionen, ihre Macken werden in den Songs deutlich stärker betont als die Frage, ob der Erzähler mit ihnen schlafen will. Auch ist es nicht unerheblich, dass die wichtigsten Elemente des Sounds auf den besten Pulp-Platten von Candida Doyle stammen. Wie in dem Lied »I Spy« oder teilweise auch in dem Stück »Different Class« Sex, Rache und Klasse zusammengebracht werden, ist insgesamt schon ziemlich böse und dreckig. Allerdings auf eine sehr interessante Weise. Das Tolle daran ist eben, dass Widersprüche thematisiert und ausgehalten, nicht einfach geglättet werden.
2010/11 kamen Studierende, aber auch Jugendliche aus den sogenannten Problemvierteln wie Croydon und Peckham nach London, um ihrer Wut über die Ökonomisierung des Hochschulwesens und das immer prekärere Leben Ausdruck zu verleihen. Glauben Sie, dass der Jugendprotest heute noch etwas bewirken kann?
Ich hoffe es, weiß es aber nicht. Mit den Besetzungen, den Protesten, den Streiks und dann den Riots von 2010/11 schien für einen Moment alles möglich. Ich kann nicht sagen, inwieweit das schon verpufft ist oder nicht. Aufregend war, dass die Jugend die »Education Maintenance Allowance« verteidigt hat und dass die zumeist aus der Mittelschicht stammenden Protestierenden und die Schüler aus der Arbeiterklasse zusammen auf derselben Seite standen. Diese Allianz zu beobachten, war schon sehr spannend. Vielleicht gibt es eine gewisse Hoffnung. Ich war aber »teilnehmender Beobachter« nur im engeren Sinn. Ich bin nie vorne auf den Barrikaden, sondern bleibe eher im Hintergrund.

Owen Hatherley: These Glory Days. Ein Essay über Pulp und Jarvis Cocker. Aus dem Englischen von Sylvia Prahl. Edition Tiamat, Berlin 2012, 167 Seiten, 16 Euro