17.01.2013
»Das Trottelbuch« von Franz Jung

Der Käfermann

101 Jahre »Das Trottelbuch« von Franz Jung. Eine wiederholte Neuentdeckung.

Das Ich im Reiben an den Wirrnisgeschehen dieser Welt so lange opfern, laut herausschreien, ersaufen lassen, bis der Knoten sich löst, bis die Eiskruste völlig mürbe geworden ist. Darauf kommt es an!« notiert Franz Jung 1915 im Festungsgefängnis von Spandau. Jung nutzt die Haftzeit zur Reflextion seines bisherigen politischen und literarischen Lebens und seiner Suche nach der Überwindung gesellschaftlicher Zwänge durch die Neubestimmung der Vorstellung des Ichs, der Literatur und Kunst, von Beziehungen und Familie, der Politik und des Lebens. »Warum suchst du Ruhe, wenn du zur Unruhe geboren bist?« Diesen Motto stellt er viele Jahrzehnte später seiner 1961 erschienenen Autobiographie »Der Weg nach unten« voran, ein Zitat des mittelalterlichen geistlichen Schriftstellers und Mystikers Thomas von Kempen. Im Rückblick auf das eigene Leben steht diese Unruhe im Mittelpunkt, eine Suche mit Irrwegen und doch klaren politischen Utopien. »Was zählt, ist das, was Gegenwart geblieben ist. Was sich in eine neue Gegenwart zurückrufen lässt, bunter und ständigem Wechsel unterworfen. Das, was missverstanden worden ist oder überhaupt nicht verstanden. Das, was so weh getan hat und plötzlich explodiert in einer Hochspannung von Glück.«
Franz Jung, 1888 als Kind strenger, katholischer Eltern in Neiße geboren, stellt schon beim Studium – Jura und Nationalökonomie, zu Beginn auch Musik – in Leipzig 1907 fest: »Ich merkte sehr bald, dass ich ausgezogen war, nicht in die Gesellschaft hineinzuwachsen, sondern aus der Gesellschaft entfernt zu werden.« Konsequent verfolgt er diesen Weg – weshalb ihn kurz darauf sein Vater aufgrund seines »unordentlichen Lebenswandels« enterbt –, heiratet die Tänzerin Margot Hader, zieht mit ihr nach München, wird zum ersten Mal Vater und schreibt eine – aufgrund formaler Mängel abgelehnte – Promotion über die Auswirkungen der Produktionssteuer in der Zündholzindustrie. Durch die Freundschaft mit Erich Mühsam wird er weiter politisiert, wird Teil von dessen anarchistischer Gruppe »Tat«, und veröffentlicht 1912 »Das Trottelbuch«, sein erstes literarisches Werk, das mit bürgerlichen Vorstellungen von Literatur bricht und von den Schriftstellern des Frühexpressionismus begeistert aufgenommen wird.
Für Jung gehören die Zerschlagung bürgerlicher Kultur und der politische Kampf zusammen und er verfolgt beides konsequent. »Zeit seines Lebens war Franz Jung als Autor diesem Erneuerungswillen verbunden. In wiederholten Anläufen hat er der deutschsprachigen Literatur Neues hinzugefügt, das einen Bruch mit den literarischen Traditionen anzeigte: in seiner Sichtweise, seiner Technik, seinem Ton«, schreibt Lutz Schulenburg im Nachwort zur Neuausgabe von »Das Trottelbuch«, die anlässlich des 50. Todestages herausgegeben wird.
1913 zieht Jung mit Margot nach Berlin, lernt seine zweite Frau Cläre Otto kennen, zählt Else Lasker-Schüler zu seinen engen Freundinnen – sie hat ihm auch das Gedicht »Zebaoth« gewidmet – und beginnt für die Zeitschrift Aktion von Franz Pfemfert zu schreiben, wo er unter anderem mit dem literarischen Essay »Morenga« als erster deutscher Schriftsteller den Völkermord der deutschen Kolonisatoren an den Hereros zum Thema macht. 1914 meldet er sich nach einem Beziehungsstreit, ohne später genauer erklären zu können, warum, freiwillig als Soldat im gerade ausgebrochenen Ersten Weltkrieg. Nach seiner Desertion im gleichen Jahr und der Haftzeit in Spandau – er simuliert Wahnsinn und wird entlassen – arbeitet er als Handelsjournalist und wird Mitherausgeber der für die literarische Avantgarde wichtigen Zeitschrift Freie Straße.
1918 gehört er zum politischen Teil des ­Berliner Dadaismus, publiziert weiter literarische wie auch politische Texte und intensiviert gleichzeitig seine Kontakte zu Mitgliedern des Spartakusbundes. Jung nimmt aktiv an der Novemberrevolution teil und tritt 1919 in die KPD ein, nur um 1920 auf dem Heidelberger Parteitag gemeinsam mit dem »utopistisch-linken« Flügel wieder ausgeschlossen zu werden. In der Folge wird er Mitgründer der KAPD, der Kommunistischen Arbeiter-Partei Deutschlands, und bekommt gemeinsam mit Jan Appel den Auftrag, nach Moskau zu reisen, um die Aufnahme in die Kommunistische Internationale zu beantragen. Weil die im Krieg beschädigte Bahnstrecke noch nicht wieder funktionstüchtig ist, entführen die beiden auf offener See den Fischkutter »Senator Schröder« auf seinem Weg nach Island und zwingen ihn zur Weiterfahrt nach Murmansk, wo die Delegation mit einer Feier im Verwaltungsgebäude herzlich empfangen wird, ein einschneidendes Erlebnis für Jung: »Es ist das große Erlebnis meines Lebens geworden. Das war es, was ich gesucht habe und wozu ich seit Kindheit aus­gezogen bin: die Heimat, die Menschenheimat. Immer, wenn ich in den Jahren nachher mich vor die Niedertracht der Menschen gestellt sah, die abgrundtiefe Bosheit, Treulosigkeit und Verrat im Charakter des Menschen, brauchte ich nur diesen 1. Mai in Murmansk ins Gedächtnis zurückzurufen, um mein inneres Gleichgewicht wiederzufinden.«
Die Begegnung mit den Funktionären dagegen fällt ernüchternd aus, dennoch wird Jung 1921 erneut in die Sowjetunion reisen, diesmal für zwei Jahre, und unter anderem den Bau einer Zündholzfabrik unterstützen, worüber er das Buch »Die Geschichte einer Fabrik« schreibt, neben unzähligen anderen Schriften zur russischen Politik und Gesellschaft. Zunächst wird er jedoch nach seiner Rückkehr nach Deutschland 1920 wegen der Kaperung des Schiffes zur Fahndung ausgeschrieben, was im September zu seiner Verhaftung führt. Davor hält er auf zahlreichen politischen Veranstaltungen Reden, mit wachsender Frustration über die Resistenz seiner Zuhörer gegenüber seinen revolu­tionären Hoffnungen. »Ich hatte da oben das Gefühl, ich hatte das dringende Bedürfnis, vom Podium herab da unten den Leuten einfach in die Fresse zu kotzen«, notiert er später in seiner Autobiographie.
Im Gefängnis schreibt er mehrere proletarisch-revolutionäre Romane und Theaterstücke, kommt im März 1921 frei, die Kaution stellt die Kommunistische Internationale, und er geht nach Russland. 1923 kehrt er nach Berlin zurück, wo er unter dem falschen Namen Franz Larsz lebt, und schlägt sich unter anderem als Kartoffel-, Kronkorken- und Getreideentmuffungsanlagen-Händler durch. Daneben arbeitet Jung als Journalist, schreibt weiter ­literarische Texte und wird Anfang der dreißiger Jahre Mitherausgeber der Zeitschrift Gegner, die sich gegen den heraufziehenden Faschismus wendet. Nach der Machtergreifung wird Jung Mitglied der Widerstandsgruppe »Rote Kämpfer«, die 1936 zerschlagen wird. Die Gestapo verhaftet Jung, er kann jedoch nach seiner Freilassung 1937 – deren Hintergründe bis heute unklar sind – über Prag und Wien nach Budapest fliehen, wo er bis zum Herbst 1944 lebt und bei der Durchschleusung von Flüchtlingen hilft.
Nach der Machtübernahme durch die ungarischen Faschisten wird er verhaftet und zum Tode verurteilt, kann aber fliehen, bis er einige Monate später in Italien erneut verhaftet und im KZ Bozen interniert wird. Nach der Befreiung bleibt er zunächst in Italien, siedelt 1948 in die USA über und arbeitet als Wirtschaftsjournalist. Jung beginnt, seine Autobiographie zu schreiben, und kehrt 1960, drei Jahre vor seinem Tod, nach Europa zurück.
»Torpedokäfer« hätte seine Autobiographie ursprünglich betitelt sein sollen, ein Insekt, in dessen Flug und Wucht beim Aufprall Jung sich selber wiedererkennt: »Anprall, Sturz, Kriechen am Boden, sich zurückbewegen zum Ausgangspunkt, zum Startplatz – mit Mühe und jedes Mal unter größeren Anstrengungen.« Jungs Leben und Werk sind bestimmt davon, beharrlich von neuem zu beginnen, zu stürzen und aus dem Sturz neue Kraft zu gewinnen, ein beharrlicher »Weg nach unten«: vom gefeierten expressionistischen Autor zum verstörenden Revolutionär und schließlich zum von der Literaturgeschichtsschreibung Vergessenen – und zum Glück immer wieder neu zu Entdeckenden. »Und so beginnt der Torpedokäfer sich wieder zu regen. Er liegt noch am Boden, nachdem er sich mühsam zum alten Startplatz zurückgeschleppt hat. Er ist schon reichlich angeschlagen. Aber er hebt die Flügel. Er beginnt sich zu straffen und wieder aufzusteigen – trotzdem! Niemand kann ihn daran hindern. Auch Sie nicht.«

Franz Jung: Das Trottelbuch. Edition Nautilus, Hamburg 2013, 96 Seiten, 14 Euro