»Versuch’s mal mit Prozac«

Berlin Beatet Bestes. Folge 176. Tomahawk: Stone Letter (2012).

Neulich im Indieplattenladen. Beim Stöbern in der Kiste mit den Neuzugängen lese ich auf der Rückseite dieser Platte den Namen von Mike Patton. Ist das nicht der Sänger von Faith No More? Von denen besitze ich keine einzige Platte. Waren mir immer zu rockistisch. Rockistisch ist vielleicht das falsche Wort. Ich gehöre nicht zu den verzärtelten, überkultivierten Typen, die Angst vor Klischees haben. Ich liebe Rock’n’Roll. Aber nur, wenn er auch echt primitiv ist. Was ich dann höre, klingt so ähnlich wie Faith No More. Oder so, wie ich mich zu erinnern glaube, dass Faith No More klangen. Eingängig, aber auch einfach zu sehr nach: RRRRRRRRROOOCK!!!! Vielleicht hat mich mein ständiger Jazzkonsum aber auch schon entrockt? Zur Zeit nervt mich jedenfalls Musik, die schon leise abgespielt total laut klingt.
Eine Sache an dieser Platte gefällt mir dennoch ausgesprochen gut: das Cover. Das hat der amerikanische Comiczeichner Ivan Brunetti gestaltet hat. Brunettis Comics habe ich in den neunziger Jahren sehr gerne gelesen. Seine Heftserie »Schizo« war unter den autobiographischen Comics unübertroffen negativ und pessimistisch. Niemand hatte jemals zuvor so radikal die Untiefen der eigenen Psyche im Comic ausgelotet wie Ivan Brunetti. Meine eigenen autobiographischen Comics waren damals nicht gerade ereignislos, ich bemühte mich schließlich, ein aufregendes Leben zu führen, das es wert war, nacherzählt zu werden, von Brunettis Krassheit war ich allerdings weit entfernt. Sein Hass und seine Menschenverachtung waren mir zwar fremd, aber sie schärften doch meine Sinne und zeigten, wohin extreme Introspektion führen kann.
Ähnlich irritiert und fasziniert zugleich, äußerten sich dann auch Comic­zeichner wie Daniel Clowes, Peter Bagge, Julie Doucet und Chris Ware auf der in »Schizo« Nummer zwei enthaltenen Leserbriefseite. Einzig Robert Crumb analysierte Brunettis künstlerisch verklärte Depression mitfühlend in seinem Brief: »Lighten up dude! Versuch’s mal mit Prozac. Oder mit positiver Auotosuggestion. Das funktioniert wirklich. Du bist zu klug und ein zu guter Künstler, um diesen Zustand aufrechtzuerhalten. Du musst etwas tun, um deine Perspektive zu ändern.« Nicht ganz zu unrecht fühlte sich Crumb, der in den siebziger Jahren die autobiographische Selbstoffenbarung im Comic erfunden hatte, für Brunettis neues Level der öffentlichen Selbstzerfleischung und Misanthropie mitverantwortlich.
Glücklicherweise hat Ivan Brunetti irgendwann die Kurve gekriegt, heute lebt er mit Freundin und drei Katzen in Chicago und unterrichtet Comics an der Uni. In seinen letzten Büchern überwog eine an das Werk seiner Kollegen Ware und Clowes angelehnte Retroästhetik. Schon Crumb war in den sechziger Jahren ein Fan der zwanziger Jahre und ausgesprochener Rock-Gegner. Die Musik von Janis Joplin, für die er ein LP-Cover zeichnete, konnte er nicht leiden. Ich wage zu behaupten, dass der Popkultursnob Brunetti mit der Musik von Tomahawk ähnlich wenig anfangen kann.