Pola Kinskis Buch »Kindermund«

»Nichts Schöneres, mein Engelchen«

Claire Horst über Pola Kinskis Buch »Kindermund« und die Versuche von Fans und Freunden, das Idol Klaus Kinski zu retten.

Die Populärkultur hat viele unangenehme Facetten: Mode, die nach ein paar Jahren wie ein schlechter Witz erscheint, Frisuren, mit denen einen niemand ernst nehmen kann, eine endlose Wiederholung der gleichen miesen Ideen unter dem Deckmantel einer weiteren Retrowelle. All diese unangenehmen Begleiterscheinungen nehmen sich aber harmlos aus im Vergleich zur blinden Verehrung ihrer Idole, wie sie Fans und Kritiker betreiben.
Noch bevor Pola Kinskis Buch »Kindermund«, in dem die Schauspielerin die jahrelangen Vergewaltigungen durch ihren Vater Klaus schildert, überhaupt erschienen war, überschlugen sich die Kinski-Fans in den Foren, um ihren Star gegen den Vorwurf des Kindesmissbrauchs in Schutz zu nehmen. Reine Geldgier stecke hinter dem Buch, das noch kaum jemand gelesen hatte, Geltungsdrang und, wer weiß, vielleicht nimmt sie ja auch ihr »Opfer-Abo« in Anspruch oder will das Bild des achso genialen Schauspielervaters zerstören. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang: Der Vergewaltigungsvorwurf hat zumindest der Popularität von Jörg Kachelmann nicht geschadet – 15 000 Follower hat er auf Twitter, wo er sich gerade darüber freute, dass sein Wort vom »Opfer-Abo« das »Unwort des Jahres« geworden ist.
Genauso wenig hat Kinski seine Selbstinszenierung als sexhungriger, omnipotenter Macho geschadet. In seiner 1975 erschienenen Autobiographie »Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund« schildert er nicht nur seine sexuellen Erlebnisse mit minderjährigen Prostituierten, sondern auch vermeintlich inzestuöse Erfahrungen mit seiner zweiten Tochter Nastassja – die damals gegen die Behauptungen klagte und sich jetzt öffentlich hinter die Darstellung ihrer Schwester stellte.
Die gleiche Sorte Fans, die den Schauspieler jetzt in Schutz nimmt, hatte damals anscheinend nichts dagegen einzuwenden. Ein Star, der seine Popularität vor allem aus dem Arschlochfaktor bezieht, gilt vielen als »Persönlichkeit«. Besonders »männlich« zu sein, ist dann ein Qualitätsmerkmal – und lässt sich wohl auch durch Sex mit der eigenen Tochter unter Beweis stellen.
Wenn ein Ekel wie der selbsternannte »Playboy« Rolf Eden behauptet, das »Fräulein Kinski lügt«, sein Freund Kinski habe Vergewaltigung »nicht nötig« gehabt, schließlich habe der Schauspieler »alle Frauen haben« können, ist dies ein weiteres Zeichen dafür, welche Funktion Vergewaltigungsvorwürfe in den Medien haben: Sie lassen sich als Skandälchen nutzen, als eine weitere Form von »Sex sells«, das ja irgendwie zum Image eines Stars gehört.
Ähnliches gilt auch für die Berichterstattung über den BBC-Moderator Jimmy Savile, wie Klaus Kinski eine »Persönlichkeit«, anders als dieser jedoch bekannt für seine karikativen Werke. In seinem Fall gelingt es der Boulevardpresse, noch in die empörten Berichte über den »Kinderschänder« Informationen darüber einzuflechten, wie »entwickelt« die Brüste seiner 11jährigen Opfer schon waren. Aufgeilen will sich der Leser ja doch noch an irgendwas.
Dieser bigotte Umgang mit der Missbrauchs­thematik ist nichts Neues. Es scheint nicht wenige zu geben, die Missbrauchsvorwürfe für den Ausdruck weiblicher Übermacht halten und den Angeklagten schon aus Prinzip verteidigen möchten. So und ähnlich lesen sich jedenfalls die Kommentare zum Thema. Wichtig machen wolle sich die Autorin, sonst hätte sie wohl schon früher geredet, heißt es da. Denn Vergewaltigungsopfer zu sein, sei heute schließlich kein Stigma mehr.
Dass betroffene Frauen das anders wahrnehmen, zeigt ein Blick auf die Website Ichhabnichtangezeigt.wordpress.com, die die Missbrauchserfahrungen von 1 100 Frauen dokumentiert. Unzählige Gründe gibt es dafür, dass Frauen und Mädchen ihre Geschichte für sich behalten: Furcht, die Familie zu zerstören, Furcht vor dem Verlust von Zuneigung, Furcht vor Gewalt, Angst, ihnen werde niemand glauben, finanzielle Abhängigkeit.
Ein solches System der Angst braucht Menschen, die mitspielen. Das Wegsehen sowohl der eigenen Familie wie auch der Öffentlichkeit schildert Pola Kinski auf beklemmende Weise. Niemand wollte etwas mitbekommen von der jahrelangen, regelmäßigen Vergewaltigung des Mädchens, das der Vater mit teurer Unterwäsche und Miniröcken ausstaffierte und wie ein Schoßhündchen zum eigenen Vergnügen hielt.
Der Fall ist kein singulärer, auch wenn das Ausmaß der Gewalt gegen die eigene Tochter schockiert. Laut einer Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend haben in Deutschland 37 Prozent aller Frauen körperliche Übergriffe erfahren, 58 Prozent wurden sexuell belästigt, 25 Prozent haben sexuelle oder körperliche Übergriffe von Seiten ihrer Beziehungspartner erlebt. Dass Übergriffe bis hin zu Vergewaltigungen nur in den seltensten Fällen von unbekannten Männern auf dunklen Parkplätzen ausgeübt werden, sollte sich inzwischen herumgesprochen haben. In den meisten Fällen sind es Angehörige, die die Abhängigkeit ihrer Schutzbefohlenen ausnutzen. Und, wie Klaus Kinski seiner Tochter zufolge, die Story von den bösen Männern da draußen auch noch zur Gängelung ihrer Töchter verwenden.
»Kindermund« ist nicht nur ein Buch über eine persönliche Lebensgeschichte. Wenn ein Personenkult wie der um Kinski und Jimmy Savile dazu dient, den Opfern die Definitionsmacht abzusprechen, hat das Auswirkungen: Dir glaubt sowieso niemand, kann die verheerende Botschaft sein.
Auch in einem ganz anderen Milieu, in der Reformpädagogik, wirkte sich die Autoritätshörigkeit der vermeintlich so unkonventionellen Fans ähnlich erstickend auf die Opfer aus. Gerold Becker, ehemaliger Leiter der hessischen Odenwaldschule, war eine derart strahlende Ikone auf seinem Gebiet, dass die Aussagen der ehemaligen Schüler ihn gar nicht treffen konnten. Und vielleicht gibt es noch eine andere Parallele.
Gab es in der Reformpädagogik die fatale Neigung, die selbstbestimmte kindliche Sexualität mit deren Missbrauch durch Erwachsene zu verwechseln, scheint die Übersexualisierung in der Populärkultur dazu geführt zu haben, dass sexualisierte Gewalt gar nicht mehr als solche wahrgenommen wird. Wer den erotisierten Auftritt von pubertierenden Kindern in Talentshows auch nur als grenzwertig empfindet, gilt manchen schon als spießig oder lustfeindlich. So zitiert Pola Kinski ihren Vater, als sie sich mit 19 Jahren, also 14 Jahre nach Beginn der Vergewaltigungen, zum ersten Mal zur Wehr setzt, mit den Worten: »Es gibt doch nichts Schöneres, mein Engelchen! Überall auf der Welt ist es völlig normal! Nur in diesem spießigen Deutschland, in dem du lebst, zicken sie rum!«
Der Fall Kinski oder auch der Fall Jimmy Savile und der des Regisseurs Roman Polanski sind noch aus einem anderen Grund beispielhaft. Sie verdeutlichen das Muster, das Missbrauch überhaupt erst möglich macht. Das Opfer ist abhängig vom Täter und hat – trotz Ekel und Abscheu – das Bedürfnis, von diesem geliebt zu werden. Dazu kommt ein Schuldgefühl, die Überzeugung, an dem Geschehen selbst schuld zu sein, schließlich hat man sich nicht genügend gewehrt. Wie viele andere Bücher über den Missbrauch ist auch »Kindermund« vor allem eines über das Wegschauen, dies ereignet sich in einem Milieu, das eigentlich vom Hinschauen lebt, bezogen auf einen Mann, der ebenfalls gerne alle Blicke auf sich lenkte.
Nicht allein durch die schonungslose Darstellung der Gewalt beeindruckt und schockiert »Kindermund«, sondern vor allem durch die Kraft der Erzählsprache. Die eigene Machtlosigkeit kann das Mädchen Pola nur in Tagträumen überwinden, in denen sie die Tauben auf der Terrasse umbringt oder einfach davonschwebt. Sie erlebt ihre Kindheit als grau und emotional kalt. So kalt, dass der neue Mann ihrer Mutter allein durch seine Lebendigkeit aus dem Rahmen fällt: Er ist ein »Wesen, das so ganz anders ist als wir; so frisch, so fröhlich, hell und laut«. Erst im Jugendalter erfährt Pola selbst Zuneigung und Geborgenheit – bei selbstgewählten Freundinnen und Freunden.
In starken Bildern lässt Kinski die Gedanken- und Gefühlswelt eines Kindes entstehen, das sich mal als hübsche Staffage, mal als Fremde in der eigenen Familie fühlt. Und noch etwas gelingt ihr: Die Widersprüchlichkeit darzustellen, die die Gefühlswelt eines Missbrauchsopfers beherrschen kann. So sucht das Mädchen Pola immer wieder die Nähe des Vaters, wenn sie sich in der neuen Familie der Mutter verloren fühlt. Das ist beim Lesen kaum zu ertragen, ebenso wenig wie die Reaktionen auf den Kinski-Fanseiten im Internet.

Pola Kinski: Kindermund. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2013, 267 Seiten, 19,95 Euro