Andrés Ruggeri im Gespräch über »reaktivierte Unternehmen« in Argentinien

»Eine Inspiration für Europa«

Vor elf Jahren kam es in Argentinien nach einer langen Rezession zu einer Banken- und Finanzkrise und in der Folge zu großen sozialen Konflikten und Massenprotesten. Auch wurden zahlreiche Betriebe, die schließen mussten, von den dort ehemals Beschäftigten besetzt. In vielen Fällen konnte eine Betriebsübernahme durch Arbeiterkooperativen durchgesetzt werden. Der Sozialwissenschaftler Andrés Ruggeri ist Leiter einer Arbeitsgruppe der Univer­sität Buenos Aires, die das Phänomen der empresas recuperadas, der »reaktivierten Unternehmen«, seit 2002 untersucht. Die Jungle World sprach mit ihm über die Entwicklung der Selbstverwaltung in Argentinien und die Anwendbarkeit des Modells in Europa.

Derzeit gibt es in Argentinien über 220 selbstverwaltete Betriebe mit 10 000 Arbeiterinnen und Arbeitern und es werden immer mehr. Wie sehen Sie diese Entwicklung heute nach elf Jahren?
Wir hatten zu Beginn keine Ahnung, wie weit diese Entwicklung gehen würde, welche Perspektiven diese besetzten Betriebe haben. Einige dachten, die Besetzungen seien Teil eines revolutionären Prozesses, andere hielten sie für ein flüchtiges Phänomen. Beide Einschätzungen haben sich nicht bewahrheitet. In einigen dieser Betriebe hat sich im Vergleich zu früher nicht viel am Betriebsablauf geändert. In anderen reaktivierten Unternehmen gab es hingegen tiefgreifende Veränderungen. Nicht nur in ökonomischer, sondern auch in kultureller und politischer Hinsicht. Die Art und Weise, wie sich diese Arbeiterinnen und Arbeiter mit ihrem Umfeld, dem Stadtteil und der Gesellschaft in Beziehung setzen, hat sich grundlegend gewandelt. Gleichzeitig existiert eine permanente Spannung zwischen dem kollektiven Geist, der seinen Ursprung in der Konflikt- und Gründungsphase der Betriebe hat, und den Bedingungen des Marktes, auf dem sich die Unternehmen behaupten müssen. Es existieren reaktivierte Unternehmen in verschiedenen Regionen des Landes und in verschiedenen Branchen. Sie stellen viele verschiedene Produkte her und auch die Betriebsgröße variiert. Es ist ein sehr vielschichtiges Phänomen. Dies ermöglicht es uns, die Potentiale und Grenzen der Selbstverwaltung zu beobachten.
Mit welchen Problemen sind die reaktivierten Unternehmen konfrontiert?
Ein großes Problem ist die Unmöglichkeit, unabhängig vom Markt zu existieren. Dies gilt im Speziellen für Zuliefererbetriebe, denn sie sind der Marktdynamik noch unmittelbarer ausgesetzt als Betriebe, die für den direkten Konsum produzieren. Letztere können versuchen, neue Formen des Austausches oder der Vermarktung zu entwickeln. Aber ein Zulieferbetrieb aus der Metallbranche oder ein Unternehmen, das Rohstoffe für die Nahrungsmittelindustrie produziert, verfügt über wenig Spielraum. Die Arbeiterinnen und Arbeiter müssen sehr klar vor Augen haben, was sie wollen, damit sie den Sachzwängen nicht unterliegen und die eingespielten Hierarchien nicht wieder reproduzieren. Sie sind einem permanenten Anpassungsdruck von Seiten des Marktes ausgesetzt.
Ein anderes Problem ist das der Legalität. Diese Betriebe sind auf einen legalen und formellen Rahmen angewiesen, sonst können sie ihre Produkte nicht herstellen und schon gar nicht vermarkten. Dieser normative Rahmen, in dem sich die reaktivierten Unternehmen bewegen müssen, steht ebenfalls in einem Spannungsverhältnis zu den Prinzipien der Selbstverwaltung. Denn die allgemeinen Normen basieren natürlich nicht auf diesen Prinzipien.
Ein weiteres großes Problem ist der Mangel an Kapital. Hier besteht ein enger Zusammenhang mit der Entstehungsgeschichte der reaktivierten Unternehmen, denn es handelt sich um Betriebe, die bankrott waren und in vielen Fällen ausgeschlachtet wurden. Die Arbeiter solcher Betriebe verfügen in der Regel nicht über Kapital, benötigen es aber, um die Produktion wieder anzufahren, in die Infrastruktur zu investieren und flexibel Rohstoffe erwerben zu können. Die reaktivierten Unternehmen generieren zwar Kapital, aber die große Frage ist, wie sie ausreichend Kapital generieren können, ohne sich in einer Dynamik der Ausbeutung der eigenen oder externer Arbeitskräfte zu verfangen. Es ist eine Grundregel des Kapitalismus: Ein Unternehmen funktioniert nicht ohne Kapital. So gesehen haben wir es hier mit einem »übernatürlichen Phänomen« zu tun: Betriebe funktionieren, obwohl sie oftmals nicht über ausreichend Kapital verfügen. Das hängt damit zusammen, dass der Erhalt des Arbeitsplatzes eine höhere Priorität hat als der Gewinn.
Welchen Einfluss hat die Weltwirtschaftskrise der vergangenen Jahre auf die reaktivierten Unternehmen?
Verglichen mit der hausgemachten Krise von 2001 hat diese internationale Wirtschaftskrise bislang nur wenige Auswirkungen auf Argentinien. Erst im Laufe des vorigen Jahres gab es erste Anzeichen einer wirtschaftlichen Stagnation. Diese hat Auswirkungen auf alle Unternehmen, nicht nur auf die reaktivierten. Ich denke sogar, dass die reaktivierten Unternehmen aufgrund ihrer Prioritätensetzung, die Arbeitsplätze zu erhalten, besser in der Lage wären, einer erneuten Krise zu trotzen. Auf jeden Fall konnten wir in der letzten Zeit schon eine kleine Welle an Neugründungen beobachten.
Es gibt zahlreiche Dachverbände der reaktivierten Unternehmen. Die Bewegung scheint stark zersplittert zu sein und es sieht so aus, als würde sich dieser Prozess fortsetzen. Warum ist das so?
Das Spalten ist in Argentinien so etwas wie eine nationale Tradition (lacht). Im Ernst, es sind alles Unternehmen, die während der Auseinandersetzung darum, ob die Arbeiterkooperative den Betrieb übernehmen kann, viele Kontakte nach außen hatten. Wenn der Konflikt jedoch beendet ist, müssen sie sich darauf konzentrieren, den Betrieb zum Laufen zu bringen. Das führt dazu, dass sie sich aus all den Aktivitäten zurückziehen, die dafür notwendig sind, eine Bewegung zu organisieren. Die Menschen, die das weiterhin machen, kommen oftmals nicht aus den Reihen der Arbeiterinnen und Arbeiter, auch wenn es das immer noch gibt. Aber in ihrer Mehrzahl sind es Aktivisten, die sich der Bewegung angeschlossen haben, politische Kader von verschiedenen Parteien, Leute aus den Gewerkschaften oder Spezialisten, zum Beispiel Anwälte oder Buchhalter, die für die Unternehmen tätig sind. So haben sich im Laufe der Zeit zahlreiche Organisationen gegründet, die von solchen Leuten dominiert werden. Sie repräsentieren die Mehrzahl der reaktivierten Unternehmen. Die Spaltung beruht nicht auf realen politischen Differenzen an der Basis, sondern auf Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen, unterschiedlichen Einschätzungen zur nationalen Lage, ob man die Regierung unterstützen sollte oder nicht. Persönliche politische Ambitionen spielen auch eine Rolle.
Denken Sie, die reaktivierten Unternehmen in Argentinien könnten ein Modell für Europa in der Krise sein?
Es sind unterschiedliche Situationen. Der argentinische Staat war während der Krise von 2001 kurz davor zu verschwinden. Seine Institutionen konnten damals sehr leicht unter Druck gesetzt werden. Die sozialen Bewegungen dominierten sie nach Belieben, obwohl ein gemeinsames politisches Projekt kaum existierte. Der Staat war so schwach, dass eine Menge Dinge möglich waren. Dies ist fundamental, um zu verstehen, warum sich die reaktivierten Unternehmen etablieren konnten. Der Staat war schlicht nicht in der Lage, eine Antwort zu geben.
Heute in Europa mag es in einigen Ländern eine Legitimitätskrise des Staates geben. Aber es ist die herrschende Klasse, die die alte Form des Staates zerstört und eine neue errichtet. Es ist nicht so, dass sie den Wohlfahrtsstaat zerstört und dem Anarchismus freien Lauf lässt. Nein, sie ersetzt ihn durch den neoliberalen Staat. Deshalb dürfte alles ein wenig schwieriger werden, denn der Staat hat Antworten. In Griechenland und Portugal vielleicht nicht so deutlich, aber in Spanien und Italien sicherlich, ohne von noch viel mächtigeren Staaten zu reden wie zum Beispiel Deutschland.
Was meines Erachtens für eine Auswertung der argentinischen Erfahrungen in Europa sehr nützlich sein kann, ist all das, was mit den Werkzeugen der sozialen Legitimation zu tun hat, über die ein selbstverwaltetes Unternehmen verfügt. Die Erschaffung von Räumen, die nicht nur ökonomisch sind, wie zum Beispiel Stadtteilzentren. Ich bin nicht sicher, ob dieser Aspekt als Modell übernommen werden kann, aber sicher als Inspirationsquelle.