Zwei Bücher von Christian Kracht und Florian Illies

Es war einmal

Über Nostalgie und Geschichtsverwurstung bei Florian Illies und Christian Kracht.

Nach einer Anmerkung Kurt Tucholskys kommt dem im Bürgertum obligatorischen Poesiealbum die Aufgabe zu, »friedliche Verse ins Stammbuch der Moderne« zu schreiben. Florian Illies zitiert diese Sentenz in seinem im Herbst erschienenen, neuesten und von der Kritik teilweise frenetisch gefeierten Werk »1913«. Doch ganz durchdrungen scheint er Tucholskys Polemik nicht zu haben, sonst hätte er nicht selbst etwas vorgelegt, was sich mitunter wie ein Poesiealbum liest. »1913« präsentiert Erbauliches und Erstaunliches aus Kunst und Literatur im letzten europäischen Friedensjahr vor dem Ersten Weltkrieg. »Mittendrin statt nur dabei«, hieß das mal im Sportfernsehen und die Jahreschronik kommt bei Illies ähnlich anbiedernd daher. Tag für Tag, Monat für Monat lässt er Revue passieren und hat dafür reichlich Material gesammelt.
Über ganze Seiten, in kurzen Absätzen oder auch mit nur einer Zeile teilt er mit, was in diesem Jahr Sigmund Freud, Thomas Mann, Alfred Kerr, Arnold Schönberg, Kafka, Rilke, Stalin, Hitler, Lou Andreas-Salomé, Picasso, D’Annun­zio, Ernst Jünger, Ernst Ludwig Kirchner und viele andere Monat für Monat trieben – und mit wem. Ein Jahr im Liveticker. Man erfährt einiges aus dem Leben Harry Graf Kesslers, dem Briefwechsel zwischen Franz Kafka und Felice Bauer oder von den sexuellen Nöten Georg Trakls. Überhaupt der Sex: Illies präsentiert die spätbürgerliche Welt in großer Libertinage. Wer schlief mit wem? Else Lasker-Schüler mit Gottfried Benn, Frieda von Richthofen mit D.H. Lawrence, Georg Trakl mit der eigenen Schwester – und Franz Kafka nicht mit Felice Bauer. Mitunter geht es zu wie in Schnitzlers »Reigen«, besonders wild trieben es die Künstler mit ihren Musen – Gustav Klimt malte also nackt unter seinem Kittel, falls »der Mann im Maler« erwachte. Auch dass Oskar Kokoschka seine Affäre mit Alma Mahler auf einer Leinwand verewigte, »die so groß ist, wie das Bett der Geliebten«, scheint Illies so nachhaltig beeindruckt zu haben, dass er es gleich doppelt erwähnt.
»1913« ist also eine echte Fleißarbeit, in der eine Unmenge an Lektüre und Exzerpten steckt, aber wofür? Die Methode changiert irgendwo zwischen »Reader’s Digest« und Dietrich Schwanitz’ »Bildung«: Aus dem großen Vorrat an Tagebüchern, Briefwechseln und biographischen Aufzeichnungen von vor allem kulturellen Größen der klassischen Moderne wählt Illies für seine Leser mundgerechte Happen aus. Ob Psychoanalyse, Expressionismus, Kubismus, Futurismus oder Weltuntergangsphantasien, das Gros der europäischen Avantgarde wird bis zur Harmlosigkeit auf die Zimmertemperatur eines bildungsbürgerlichen Kanons gebracht. Irgendwann dreht sich dieses Vorgehen im Kreis, ist man von all den Skandalen und Revolutionen ermüdet und weiß nicht mehr, wer schon wieder das »Ende der Kunst« – oder ihren eigentlichen Anfang – verkündet hat, der Autor oder die Protagonisten?
Daneben gibt es in »1913« ein paar Zaungäste, deren Anwesenheit sich nicht ganz erschließt. Carl Schmitt wird immer wieder bemüht, von dem in diesem Jahr doch gerade einmal die »Schattenrisse« erschienen waren, eher eine Studentenlaune als ein Buch. (Da ist Bert Brechts Pubertätslyrik interessanter, die es wohl aus Gründen des politischen Proporzes in den Band geschafft hat). Oswald Spengler reüssiert bei Illies einzig als misanthropischer Grantler, dessen »Angst vor Weibern – sobald sie sich ausziehen« Anlass zu einiger Süffisanz gibt. Dass seine Arbeiten zum »Untergang des Abendlandes« auf eine neue deutsche Epoche vorbereiten sollten, erfährt man nicht. Nur Ernst Jünger, der sich in diesem Jahr »afrikanischen Spielen« hingab, um bei der Fremdenlegion zu landen, hat tatsächlich schon etwas zu bieten. Ihn allerdings als einen »nüchternen« Autoren zu beschreiben, bedeutet, die Strategie des Heroischen Realismus nicht durchschaut zu haben, in dem der Mythos noch immer zu seinem Recht kommen sollte. Vor allem sollten Jünger, Spengler und Schmitt ihre tatsächliche Wirkung erst in den zwanziger Jahren entfalten, den Diskurs bestimmten sie 1913 noch nicht. Illies’ Würdigung dieser Autoren scheint eher der Hoffnung entsprungen, irgendwer werde sich schon finden, der angesichts der Präsenz rechter Idole laut genug aufjault und dem Buch dadurch die notwendige Aufmerksamkeit verschafft.
Sein Kollege Christian Kracht, der wie Illies einst zur jüngsten Autorengeneration der Berliner Republik gehörte, hatte zuvor mehr Glück mit solch einem Skandalisierungsmechanismus. Er wählte sich gleichfalls den letzten Friedensabschnitt des wilhelminischen Reiches als Bühne und erzählte in dem im Frühjahr zuvor erschienenen Roman »Imperium« die Geschichte des deutschen Aussteigers und Sektengründers August Engelhardt, der in der Südsee einen eigenen Kult der Sonnen- und Kokosnussverehrung zu begründen versuchte. Fast kommt es sogar zur Begegnung beider Texte: In »1913« passiert Emil Nolde auf seiner Südseereise Deutsch-Neuguinea, wo wiederum Engelhardts Aussteigerparadies aus »Imperium« angesiedelt ist. Beide Bücher spielen in einer Zeit, in der Lebensreform, Erweckungslehren und jugendbewegte Aufbrüche die wilhelminischen Konventionen aufzukünden trachteten und Gegenentwürfe jedweder Art, vom religiösen Pazifismus bis zur völkischen Ideologie, hervorbrachten. Vor allem mit einigen vage gehaltenen Anspielungen auf »den anderen Vegetarier« arbeitet Kracht nach einem ähnlichen Verfahren wie Illies, wenn dieser die noch unbedeutenden Spengler und Schmitt bemüht. Auch Kracht trachtet danach, den Kredit des kommenden Monsters im Voraus einzulösen. Unvermittelt tritt in »Imperium« am Rande eines Spaziergangs der Hauptfigur Engelhardt durch München plötzlich das Kommende ins Bild: »Die Feldherrnhalle, jene florentinische Parodie dort drüben, kaum eines Blickes gewürdigt, steht mahnend, ja beinahe lauernd im spektralen Münchner Sommerlicht. Nur ein paar kurze Jährchen noch, dann wird endlich ihre Zeit gekommen sein, eine tragende Rolle im großen Finsternistheater zu spielen. Mit dem indischen Sonnenkreuz eindrücklich beflaggt, wird alsdann ein kleiner Vegetarier, eine absurde schwarze Zahnbürste unter der Nase, die drei bis vier Stufen zur Bühne … ach warten wir doch einfach ab, bis sie in äolischem Moll düster anhebt, die Todessymphonie der Deutschen.«
Das Buch war kaum erschienen, da wurde dieses Kokettieren mit dem zukünftigen Horror zum Gegenstand einer heftigen Debatte. Georg Diez kritisierte, Krachts Buch enthalte eine Apologie völkischer Kategorien. Er sah sich zu einer Generalabrechnung mit Krachts bisherigem Werk veranlasst, wobei es ihm vor allem um eine vorherige Kooperation des Autors mit dem nach rechts oszillierenden Künstler David Woodard ging. Die Debatte hielt sich eine ganze Weile in den Feuilletons. Eine Form der Aufmerksamkeit, die noch keinem Autor geschadet hat, zumal die Kritik unisono zurückgewiesen wurde. Diez’ Kritik an Kracht war dabei zwar keineswegs so eindimensional, wie es von Krachts Verteidigern meist dargestellt wurde, traf aber dennoch nicht den Kern.
»1913« von Florian Illies sollte wohl dem Wispern des Weltgeistes im letzten Friedensjahr nachlauschen, herausgekommen ist aber nur eine bildungsbürgerliche Jahreschronik. Christian Krachts »Imperium« ist dagegen in erster Linie daran interessiert, die Tragödie um seinen aus der Welt gefallenen Protagonisten zu entwickeln. Hinsichtlich der Umstände seiner Zeit bleibt es lieber im Ungefähren. Das gibt Kracht mehr künstlerischen Spielraum als Illies, der sich ernsthaft als Dokumentator versucht. Bei Kracht soll, wie er in seiner leicht gekünstelten Art schreibt, »stellvertretend die Geschichte nur eines Deutschen erzählt werden, eines Romantikers, der wie so viele dieser Spezies verhinderter Künstler war.« Wenn allerdings dabei, so schiebt er gleich nach, »manchmal Parallelen zu einem späteren deutschen Romantiker und Vegetarier ins Bewusstsein dringen, der vielleicht lieber bei seiner Staffelei geblieben wäre, so ist dies durchaus beabsichtigt und sinnigerweise, Verzeihung, in nuce auch kohärent.« Dabei stimmt das gar nicht. Weder war Hitler ein pazifistischer Aussteiger noch das Deutsche Reich eine Hippie-Kolonie. Krachts Prophet beginnt sogar ausgesprochen antiautoritär, wird dann im Wahn zum Kannibalen an sich selbst und schließlich zum Antisemiten. Die »Kohärenzen« erweisen sich also eher als Simplifizierungen, orientiert an Äußerlichkeiten und Skurrilitäten. Solche sind sicher das Vorrecht des Literaten vor dem Historiker, aber auch ein Hinweis, dass Georg Diez mit seinen Vorwürfen nicht so falsch lag.
Der Eindruck, nicht genug begriffliche Distanz zu den völkischen Theorien des frühen zwanzigsten Jahrhunderts zu wahren, entsteht durch Krachts Versuche einer sprachlichen Mimesis an den wilhelminischen Zeitgeist. Vor allem aber produzieren diese eine manchmal sehr gedrechselte Sprache, die dem Buch schadet. Jedoch erscheint beispielsweise die unbeholfene Verwendung des »Rasse«-Begriffs in Krachts »Imperium« eher als lässliche Sünde, wenn man sie mit der penetranten Entgesellschaftlichung vergleicht, die von Illies in »1913« betrieben wird. Denn trotz ausgesprochener Liebe zum Detail vereinfacht Florian Illies sein Sujet unangemessen. Vor allem, dass er das Jahr fast ausnahmslos aus dem Blickwinkel der künstlerischen Avantgarde präsentiert, bedeutet eine immense Verengung. Mit der Kultur, die sowohl das Deutsche Reich als auch die habsburgische k.u.k.-Monarchie damals prägte, hat dies wenig zu tun. Der Geschmack der Zeitgenossen goutierte damals eher Historizismus, Jugendstil und Symbolismus, Anton von Werner, Arnold Böcklin oder Franz von Stuck waren vor dem Krieg noch weitaus etablierter als die Kunst, die heute als klassische Moderne gilt – und sie hatten mit der Psychoanalyse mindestens so viel zu tun wie Picasso, Ernst Ludwig Kirchner oder Franz Marc. Der Deutsche Werkbund prägte folgenreich die Ästhetik der Industrieproduktion, wird in »1913« aber kaum beachtet. Illies’ »1913« betrachtet das Jahr aus dem Blickwinkel der heute gültigen Kunstgeschichte. Das Problem ist, dass diese Perspektive die Wahl des Jahres 1913 sehr willkürlich erscheinen lässt. Warum nicht 1899, als Freud erstmals die »Traumdeutung« veröffentlichte, warum nicht 1909, als das Manifest der Futuristen erschien, oder 1912, als deren Mailänder Ausstellung in Berlin weilte?
In seinem rein ästhetisierenden Plauderton umschifft »1913« die weniger eleganten oder minder spektakulären Themen konsequent. Der grassierende Nationalismus im Deutschen Reich, der Umstand, dass es in allen europäischen Ländern chauvinistische Bewegungen gab, allein die deutschen und britischen Massenblätter schon mehrfach ihre Leser fast in den Krieg geschrieben hatten, ist ihm kaum eine Erwähnung wert. Die deutsche Hochkonjunktur war 1913 am Ende, eine Regression kündigte sich an. Streiks und Unruhen von Bergleuten und Werftarbeitern unterstrichen, dass die sozialen Konflikte die Jahrhundertwende überdauert hatten, das offizielle wilhelminische Deutschland zeigte sich wenig reformfreudig. Mit der Berufung eines deutschen Kommandos im Rahmen der deutsch-osmanischen Militärhilfe über die strategisch bedeutende Meerenge am Bosporus war ein Krieg mit Russland schon Ende 1913 in greifbare Nähe gerückt. Die Zuspitzungen dieser Zeit fanden eben nicht nur in den Betten und auf den Leinwänden der Kulturwelt statt. Die spezifisch wilhelminische Mentalität in ihrer Mischung von aus wirtschaftlicher Dynamik gespeister Aufbruchsstimmung, überbordendem nationalem Selbstbewusstsein und Provinzialität findet in »1913« keine Beachtung – dabei gehörte sie zu den Entstehungsbedingungen der Avantgarde. Kracht ist in seiner Darstellung »tumber alkoholkranker Pflanzer«, die »ihrer Erscheinung nach an Erdferkel« erinnerten und als Boten deutscher Zivilisation neben dem asketischen Engelhardt die Südsee bevölkern, wenigstens bemüht, die großsprecherisch-imperiale Mentalität der wilhelminischen Boomgeneration einzufangen. Illies’ »1913« gibt dagegen jenseits von Atelierklatsch und Hoftratsch kaum Auskunft über die Gesellschaft, die seine Protagonisten umgibt. Auch der kommende große Krieg dräut zwar stets wie eine Gewitterwolke am Horizont, bleibt aber eine Art Naturereignis. Die Avantgarde tanzte auf einem Vulkan, es bleibt der wohlige Schauer, mit dem auf die kommenden Monstrositäten angespielt wird: Hitler trinkt seine Milch und malt Aquarelle, Tito ist ein Frauenheld und schnittiger Autofahrer, während Stalin eher ungehobelt daherkommt. Und Spengler grantelt weiter. Ihr Auftritt rechtfertigt sich allein mit der Rolle, die sie später einmal spielen sollten. Für das Jahr 1913 haben sie noch keinen wirklichen Belang, ihre Anwesenheit dient allein dem Effekt, den ihre Namen auslösen. So wird die Geschichte zum Kuriositätenkabinett und ihr Chronist zum Schausteller.
Vergällen bei Christian Kracht mitunter die sprachlichen Manierismen die Lektüre, so irritiert Illies mit der Kluft zwischen dem bildungsbürgerlichen Anspruch und »jugendlichen« Flapsigkeiten, mit denen er seinen Text systematisch angereichert hat. Er setzt auf eine angestrengte Vergegenwärtigung des Geschehens, will um jeden Preis sprachlich die Brücke ins Heute schlagen, indem er von der »Work-Life-Balance« Marcel Prousts oder einer »Start-Up«-Atmosphäre bei Rudolf Steiner schreibt.
Eigentlich wird nur der gegenwärtige Berlin-Kult in die Vergangenheit zurückprojiziert. Kirchner leidet, da das »verfluchte Berlin« ihm kaum Zeit zum Arbeiten lässt. Die hippe Metropole ist gar am Niedergang der »Brücke« schuld, denn »diese pochende Überforderung, die sich Hauptstadt nennt«, habe die Künstlergruppe zu Individuen gemacht und »an den Brücken, die sie verbinden« gesägt. Apropos Kalauer: Angesichts eines hessischen Einschlags beim jungen Adorno lässt sich Illies zu einem Witzchen über den »Dialekt der Aufklärung« hinreißen. Dass ihm Thomas Manns »Fiorenza« »mehr Uff als Uffizien« ist und er Rilke als »deutschen Meister« darin, die Frauen »in zärtlicher Distanz« zu halten, ausruft, hätte man auch lieber nicht gelesen. In dieser Verbindung von enzyklopädischen Informationen über nachträglich kanonisierte Kultur und aufgehippter Sprache zeigt sich Illies’ Vergangenheit als »Popliterat«.
Florian Illies, der mittlerweile die Abteilung für Kunst des 19. Jahrhunderts im Auktionshaus »Villa Grisebach« leitet, hat ein Buch geschrieben, das so originell ist wie ein »Brücke«-Kunstkalender heute. Sein Ansinnen war es wohl, das letzte Jahr des bürgerlichen Zeitalters atmosphärisch zu verdichten, doch mitunter zieht er es so in die Länge, dass man sich geradezu nach 1914 sehnt. Sollte dies das Ziel gewesen sein, den Wunsch nach einem Ausbruch aus der »Welt von gestern« (Stefan Zweig) nachvollziehbar zu machen, den der Erste Weltkrieg darstellte, so ist ihm das immerhin gelungen. Ihrem so deutlich erhobenen Anspruch literarischer Meisterschaft werden weder Kracht noch Illies gerecht. Das wäre nicht so dramatisch, gingen beide nicht derart mit ihren Allüren hausieren. Aus jeder der ästhetisierenden, hochkultivierten Zeilen der beiden Autoren springt die Leser der Wille, irgendwie zu schreiben wie Thomas Mann, geradezu an, wie sich auch die Autoren nun schon seit Jahren an ihren Selbst­inszenierungen abarbeiten.
Aber warum übt die Epoche der Agonie des bürgerlichen Zeitalters, jene »letzten Tage der Menschheit«, überhaupt eine derart magische Anziehungskraft auf die Autorengeneration der Popliteratur aus? Vor Jahren hat sich Illies bereits mit der Biographie des deutschen Kunstmäzens und Kosmopoliten Harry Graf Kessler befasst (»Graf Cool«). Diese auch habi­tuelle Angleichung an die letzten Vertreter der bürgerlichen Kultur, die wie Thomas Mann oder Ernst Jünger zugleich Zeugen ihres Untergangs wurden, bleibt nach dem endgültigen Absterben der bürgerlichen Welt eine rein oberflächliche Reminiszenz. Entscheidend sind, wie in der Popkultur, allein Glam und Extravaganz, sie scheinen die Vergangenheit in die Gegenwart zu holen. Diese »Suche nach der verlorenen Zeit« – Proust hat in »1913« natürlich auch seinen Auftritt – gestaltet sich deshalb so angestrengt, weil die Vergangenheit als etwas erinnert wird, was sie nie war. Kracht ist wenigstens auf eine originelle Story gestoßen, die man aber lieber von T.C. Boyle präsentiert bekommen hätte  – mit mehr Humor erzählt und souveräner im Spiel mit »der Geschichte«. Die vielen Vatermorde, Krisen und Exzesse der Avantgarde sind zwar ein berauschender Stoff, bei Illies werden sie zur Kolportage. Vor allem »1913« ist eine reine Rückprojektion, eine Sehnsucht nach etwas, was so nie gewesen ist, wie es uns im Buch präsentiert wird, und nur in der Vorstellung als Idealzeit bestehen kann: Nos­talgie eben.

Christian Kracht: Imperium. Kiwi, Köln 2012, 256 Seiten, 18,99 Euro
Florian Illies: 1913. S. Fischer, Frankfurt a.M. 2012, 320 Seiten, 19,99 Euro