Die Revolte gegen die Herrschaft der Muslimbrüder in Ägypten

Ägypten wird unregierbar

Die Revolte gegen die Herrschaft der Muslimbrüder weitet sich aus. Aber sie trägt keineswegs nur emanzipatorische Züge.

Die Bilanz der Proteste der vergangenen Woche in Ägypten ist verheerend. Fast 60 Menschen starben, Dutzende Aktivistinnen wurden Opfer sexueller Gewalt, Polizeistationen gingen in Flammen auf. Die Regierung reagiert mit brutaler Repression und heizt damit die Wut ihrer Opponenten weiter an. Die organisierte Opposition laviert kopflos zwischen Dialog, Distanzierung von Gewalt und dem Ruf nach dem Sturz des Regimes.
»Unbeendete Revolution« nennt die englische Website von al-Jazeera ihre Rubrik über Ägypten. Tatsächlich müsste man von einer entgleisten Revolution sprechen. Die Wut scheint sich kaum mehr in Bahnen lenken zu lassen. Gewalt kann sich gegen jeden richten. Auf der Straße weiß niemand mehr, wer auf welcher Seite steht.
Der zweite Jahrestag der Revolution in Ägypten würde kein Feiertag werden. Das wussten die Aktivistinnen und Aktivisten von Opantish (Operation Anti-Sexual-Harassment), als sie sich vor zwei Wochen auf ihren Einsatz vorbereiteten. Viele von ihnen gehören zu jenen Aufständischen, die vor zwei Jahren so beliebt in den westlichen Medien waren: Kinder der Mittelschicht, aufgeklärt und emanzipiert. Von Anfang an waren sie in der Minderheit. Inzwischen sind sie kaum mehr Teil der Protestierenden, sondern oppositionelle Einsatzkräfte, die versuchen, das Schlimmste zu verhindern.
Bereits im November, bei den Protesten gegen die Dekrete des Präsidenten Mohammed Mursi und seine Ankündigung eines Verfassungsreferendums, kam es zu brutalen sexuellen Übergriffen auf Demonstrantinnen. Das Phänomen ist in Ägypten nicht neu. Schon vor dem Sturz Mubaraks stürmten Männer gezielt in Demonstrationen, umzingelten einzelne Frauen, entkleideten und begrabschten sie. Man hielt sie für vom Regime bezahlte Schläger. Dagegen wollten die Opantish-Aktivisten vorgehen: mit Eingreif­trupps, Rettungsteams, die unter anderem neue Kleidung für die meist nackt zurückgelassenen Opfer dabei hatten, und psychosozialer Betreuung.
Am Freitag voriger Woche sahen sie sich allerdings mit einer neuen Dimension der sexuellen Gewalt konfrontiert. Kaum waren die Männer und Frauen mit ihren weißen und gelben Westen losgerannt, um eine Frau aus den Fängen eines Männermobs zu befreien, ging auf ihrer Hotline schon der nächste Notruf ein. Opantish-Aktivistinnen wurden selbst ausgezogen und befingert, wenn sie versuchten, zu den attackierten Frauen zu gelangen. Am Ende des Tages zählte Opantish 25 Opfer sexueller Gewalt – und das sind nur die, denen die Organisation helfen konnte.
Ein Youtube-Video zeigt, wie eine Frau von einem Mob gegriffen und weggetragen wird. Die Aufnahme wie auch die Berichte der Opantish-Aktivisten zeigen, dass die Täter in großer Einmütigkeit handelten. Sie führten Messer mit, um die Kleidung der Opfer zu zerschneiden – in einem Fall auch, um damit zu vergewaltigen. Während sie ihre Opfer befingerten, riefen einige »Lasst die Frau in Ruhe«, als wollten sie helfen. Das alles legt nahe, dass diese Übergriffe organisiert waren.
Doch wenn es sich um agents provocateurs handelte, stellt sich die Frage, warum diese unbehelligt in den Demonstrationen agieren konnten. Auf dem Youtube-Video sieht man, wie die Masse um das Grüppchen Vergewaltiger herum sich weiter dem Kampf mit der Polizei widmet und keine Notiz von der um Hilfe rufenden Frau nimmt. Allein zwei Männer in gelben Westen mit Baseballschlägern gehen den Männern schließlich nach, die die Frau wegtragen. Daraus lässt sich nicht nur schließen, dass die Protestierenden Gruppenvergewaltigungen als Kavaliersdelikt begreifen. Vor allem legt es nahe, dass sie die Täter eben nicht für agents provocateurs halten. Denn würde nicht in einer gewalttätigen revolutionären Stimmung ein als Provokateur Erkannter verprügelt werden und sogar um sein Leben fürchten müssen?

Die Fronten sind in Ägypten nicht mehr klar. Als am 26. Januar ein Kairoer Gericht 21 Fußballfans des Clubs al-Masry aus Port Said zum Tode verurteilte, jubelten die Fans des Kairoer Clubs al-Ahly. Die Anklage hatte den al-Masry-Fans vorgeworfen, bei einem Spiel zwischen al-Ahly und al-Masry im Februar vorigen Jahres die al-Ahly-Fans angegriffen zu haben. Bei den Auseinandersetzungen kamen damals 74 Menschen ums Leben. Die Umstände dieser größten Fußballkatastrophe in der Geschichte Ägyptens bleiben aber weitestgehend ungeklärt. Schon kurz nach dem Spiel hatten Zeugen berichtet, die Sicherheitskräfte hätten sich bei Ausbruch der Gewalt zurückgezogen. Auch hier gab es die Vermutung, dass unter den al-Masry-Fans vom Regime bezahlte Provokateure gewesen seien. Die Fans des Kairoer Clubs al-Ahly hatten sich als treibende Kraft des Aufstands gegen Mubarak betätigt, und es wurde gemutmaßt, dass es im Sicherheitsapparat einige gebe, die es ihnen heimzahlen wollten. Neun Polizisten sind angeklagt, ein Urteil steht noch aus.
Nach dem Urteil gegen die al-Masry-Fans stürmten Angehörige zum Gefängnis in Port Said, in dem die Verurteilten untergebracht sind. Männer mit Kalaschnikows schossen auf Polizisten und Wachen. Über 30 Menschen starben. Gleichzeitig ging eine Polizeistation in Flammen auf. Beobachter meinen, dass dies nicht das Werk der Angehörigen sein könne. Zumeist Mütter seien nach dem Urteil zum Gefängnis aufgebrochen, die sicher keine Kalaschnikows mitgeführt hätten. Tagelange gewalttätige Proteste folgten.
Für Präsident Mohammed Mursi stellen die Proteste in der Stadt am Suez-Kanal eine große Gefahr dar. Die Stadt ist den Muslimbrüdern ohnehin nicht gewogen. Die Mehrheit der Bürger hatte bei der Präsidentschaftswahl für den Nasseristen Hamdeen Sabahi gestimmt. Vom Nasserismus hält man hier viel, hatte doch der Präsident Gamal Abdul Nasser den Suez-Kanal 1956 verstaatlicht und den Heldenmut der Stadt in höchsten Tönen gerühmt, nachdem seine Bewohner den Kanal gegen Briten, Franzosen und Israelis verteidigt hatten.
Der Kanal ist eine Lebensader Ägyptens. Mehr als drei Milliarden Euro nimmt der Staat damit ein. Er ist die größte Einnahmequelle nach dem Tourismus, der bei andauernden Protesten allerdings bald weniger lukrativ sein dürfte. Würden sich die rebellierenden Städte am Suez-Kanal von der Regierung lossagen, wäre Ägypten bankrott.
Umso zweifelhafter scheint, wie Mursi auf die Krise in Port Said reagierte. Er verhängte den Ausnahmezustand, erließ eine Ausgangssperre – die demonstrativ missachtet wurde – und erklärte, Gerichtsurteile müssten respektiert werden. Dabei hatte er sich selbst per Dekret im November über jedes Gericht gestellt, mit der Begründung, die Richter seien Vertreter des alten Regimes und behinderten den Verfassungsprozess.
Dies ist nur ein Beispiel, wie es Mursi und die Muslimbrüder derzeit schaffen, die Bevölkerung immer mehr gegen sich aufzubringen. Plan- und hilflos scheinen sie in Taten und Worten die größte Konfrontation zu suchen. Gebetsmühlenhaft wirft der Präsident seinen Widersachern Hooliganismus vor und inszeniert sich als Opfer einer Verschwörung.

Der verhassten Polizei hat er trotz gut dokumentierter Übergriffe weitreichende Rechte eingeräumt. So berichtete die ägyptische Presse über ein Video, das zeigt, wie ein nackter Mann von Polizeikräften verprügelt und über das Pflaster geschleift wird. Die ägyptische Polizei kann seit dem 25. Januar willkürlich und faktisch legal Protestierende festnehmen. Denn der erst neu formierte anarchistische »Schwarze Block« wurde zur kriminellen Vereinigung erklärt. Da aber ein Großteil der Protestierenden schwarz gekleidet oder vermummt ist – wenn auch meist mit einer Kafiya –, kann jedem die Zugehörigkeit zum »Schwarzen Block« unterstellt werden.
Derzeit diskutiert die Shura-Versammlung ein Anti-Protest-Gesetz. Damit soll nicht nur das Demonstrationsrecht auf die Zeit von 7 Uhr morgens bis 7 Uhr abends eingeschränkt werden, es soll den Polizeikräften auch freie Hand geben, unter Anwendung von Gewalt Proteste aufzulösen. Slogans, die »Zwietracht säen«, sollen verboten werden. Damit würde sich der Muslimbruder-Staat kaum mehr von der Diktatur Mubaraks unterscheiden. In einigen Punkten hat er die Diktatur ohnehin schon übertroffen: So wurden seit Mursis Amtsübernahme im Sommer mehr Menschen wegen Präsidentenbeleidigung angeklagt als in der Regierungszeit Mubaraks.

Aber auch die Opposition wirkt hilflos angesichts der ausufernden Gewalt. Nach den Ausschreitungen am zweiten Jahrestag der Revolution und dem darauf folgenden Wochenende hatten führende Vertreter der Nationalen Rettungsfront eine Initiative der al-Azhar-Universität unterzeichnet, die ein Ende der Gewalt und einen nationalen Dialog forderte. Die Koalition schien einzigartig: Sogenannte säkulare Oppositionelle, darunter Mohammed al-Baradei und der Nasserist Hamdeen Sabahi, machten mit der konservativ-religiösen al-Azhar-Universität Front gegen die Muslimbrüder? Schon kurz darauf kritisierten andere Oppositionelle, dass die Initiative den Protest mit der Staatsgewalt gleichsetze. Sabahi und Baradei gaben nach und erklärten, einen Dialog könne es erst geben, wenn der Staat die Gewalt einstelle. Weiterhin kündigten sie an, man werde die friedlichen Demonstrationen fortsetzen – als gäbe es irgendwo noch friedliche Demonstrationen.
Ihre Realitätsferne wird indes vom Präsidenten übertroffen. Mursi ignoriert schlicht die größte oppositionelle Bewegung, die immerhin aus drei großen Gruppen besteht und die Hälfte der Wählerschaft repräsentieren dürfte. In aller Seelenruhe kündigte er an, das nächste Treffen zum »nationalen Dialog« werde in wenigen Tagen stattfinden. Jeder könne daran teilnehmen – als wüsste er nicht, dass keine relevante Kraft neben den Islamisten dort auftauchen wird. So viel Ignoranz wird nur noch übertroffen von den USA. Sie lieferten der ägyptischen Regierung am Sonntag vier F-16-Militärflugzeuge.
Neue Vorschläge kommen von unerwarteter Seite. Salafisten stellten am Wochenende eine eigene Initiative vor, in der sie sich entscheidenden Forderungen der säkularen Opposition anschlossen: Entlassung des von Mursi eingesetzten Generalstaatsanwalts und Auflösung des Kabinetts. Es soll ihrem Vorschlag zufolge durch eine nationale Koalition ersetzt werden. Was davon zu halten ist, ist schwer zu sagen. Nur eines ist klar: Die Muslimbrüder würden die Verlierer sein.