Ein Buch über zehn Jahre Hacking und Medienaktivismus in Italien

Digitale Autisten für eine andere Welt

Ein italienisches Hacker-Kollektiv beschreibt in einem Buch die Geschichte des politischen Hacking und die Entstehung des Medienaktivismus. Bei der Transmediale stellte die Gruppe ihren Rückblick auf zehn Jahre digitalen und politischen Aktivismus vor.

»Unser Ziel ist es, Räume des Internet zurückzufordern, in denen wir diskutieren und arbeiten können: Zum einen geht es um das Recht auf und den Bedarf nach freier Kommunikation, Privatsphäre, Anonymität und den Zugang zu digitalen Ressourcen; zum anderen dient dies realen so­zialen Projekten und ihren Kämpfen. Um unsere Ziele zu erreichen, scheint uns das Aufsetzen eines unabhängigen Servers ein guter Anfang.«
So beschreibt das Kollektiv Autistici/Inventati (A/I) im Jahr 2002 seine Ziele in seinem Gründungsmanifest. Die Geschichte der »digitalen Autisten« beginnt bereits in den neunziger Jahren und ist eng verbunden mit der Geschichte der sozialen Bewegungen dieser Zeit.
In dem Buch »+kaos. 10 anni di hacking e mediattivismo« (Zehn Jahre Hacking und Medienaktivismus) beschreibt das Kollektiv nun die Geschichte des italienischen Hacktivismus; es schildert, wie am Anfang des neuen Jahrtausends während der Entstehung der Antiglobalisierungsbewegung die Figur des »Medienaktivisten« entstand; es berichtet über die Repression durch den Staat und reflektiert über die Chancen des Web 2.0 und des social networking für den heutigen politischen Aktivismus und über deren Grenzen.
Das Kollektiv Autistici/Inventati entstand in den neunziger Jahren durch die Vereinigung zweier Gruppen digitaler Aktivisten. Autistici wurde in Mailand gegründet und besteht, so wird es im Buch beschrieben, eher aus Nerds, deren Schwerpunkt vor allem auf dem Hacking liegt. Sie betreiben einen der ersten selbstverwalteten Server in Italien, der sich in wenigen Jahren als »Server der Bewegung« etabliert hat. Inventati ist eine Gruppe von Medienaktivisten aus Florenz, die sich mehr auf die kommunikativen Aspekte der neuen Technologie und die Herstellung einer Gegenöffentlichkeit konzentrieren. Mehrmals werden die beiden Gruppen im Buch als »die Techniker« und die »Nicht-Techniker« beschrieben. Die Hacker und Medienaktivisten trafen sich zum ersten Mal beim ersten »Hackmeeting« 1998 in Florenz.

Im Gegensatz zu Deutschland mit dem lange bestehenden Chaos Computer Club (CCC) war die italienische Hacker-Szene bis dahin nicht überregional organisiert. Die italienische Szene unterscheidet sich von Anfang an durch die Verbindung von Hacking und Medienaktivismus und durch ein politisch radikaleres Verständnis des Hackens von den Szenen in anderen Ländern. In Deutschland ist dieses Verständnis weniger verbreitet, aber es scheint sich langsam durchzusetzen. Ende 2012 wurde beim 29. Chaos Communication Congress in Hamburg unter dem Titel »Not My Department« unter anderem darüber diskutiert, wie die deutsche Hacker-Szene politischer werden kann.
Aber zurück nach Italien. Die digitalen Aktivisten dokumentieren die großen globalisierungskritischen Demonstrationen zwischen 1999 und 2001 – Seattle, Prag, Göteborg. Zu dieser Zeit gründet sich in Bologna auch Indymedia Italia. Von nun an konnten auch Liveticker von Demonstrationen geschaltet werden. Die erste Version von italy.indymedia.org, die sich über das Internetarchiv noch heute aufrufen lässt, ist hauptsächlich eine Link- und Mediensammlung. Dann kommt der Sommer 2001: Genua, der G8-Gipfel, die Proteste, die Ermordung von Carlo Giuliani und der Angriff der Polizei auf die Diaz-Schule, in der unter anderem das Media-Center der Bewegung untergebracht ist. Viele der dort verprügelten und verhafteten Menschen sind Medienaktivisten. Neben Indymedia und Mitgliedern von A/I sind dort auch andere linke und autonome Medien wie die Tageszeitung Il Manifesto, die Wochenzeitung Carta und verschiedene freie Radios wie GAP, Ondarossa, Onda d’Urto und Blackout vertreten.

Genua wird für die Medienaktivisten, wie für alle anderen, die sich an den Protesten beteiligten, zum traumatischen Erlebnis. Es war für sie in gewissem Sinne die erste wirkliche Auseinandersetzung mit der analogen politischen Realität. So beschreibt Pinke, ein Mitglied von A/I, die Hilf­losigkeit der Medienaktivisten in Genua: »Unser Bewusstsein und all unsere Fähigkeiten waren machtlos gegenüber dieser Brutalität. Wir hatten verloren: Was konnten wir mehr tun, als all diese Leute auf die Straße zu bringen? Wir hatten alles gegeben und nichts bekommen.« Auf der anderen Seite entwicklete sich ein Bewusstsein für die eigene Rolle, die Medienaktivisten nahmen ihrer Tätigkeit zum ersten Mal als echte Konkurrenz zur Berichterstattung der Mainstream-Medien wahr: »Am nächsten Tag würden nicht nur die Freunde und Genossen Indimedia lesen, sondern tausend Leute. Auch in einer so dramatischen Situation mussten wir nüchtern bleiben«, erzählt Cojote. Es ist Radio GAP, das am 21. Juli die Stürmung der Diaz-Schule live ankündigt. Um 23.57 Uhr wird die Übertragung unterbrochen. Es ist der Beginn der »chilenischen Nacht«.
Nichts wird nach der Erfahrung von Genua wie früher sein. Das gilt für die globalisierungskritische Bewegung in all ihren Ausformungen sowie für die Hacker und Medienaktivisten, die seit dem Sommer 2001 als konstitutiver Teil dieser Bewegung gelten.
Im neuen Jahrtausend ist die Zahl der Internetnutzer zusammen mit der Anzahl kommerzieller Dienste rasant angestiegen. Diese stellen ihren Service meist kostenfrei zur Verfügung und erstellen im Hintergrund detaillierte Nutzerprofile. Zugleich etablierte sich nach den Anschlägen von 9/11 eine neue digitale Sicherheitspolitik. Die Angst vor neuen Anschlägen wurde zur Legitimation für die Schaffung von Überwachungstechniken, die immer mehr in die Privatsphäre der Internetnutzer eingreifen. Die Speicherung von Kommunikationsdaten im Internet wird technisch immer einfacher.
Auch A/I ist davon betroffen. Im Juni 2004 kontaktieren Behörden den privaten Internetprovider Aruba wegen croceneraanarchica@inventati.org, der Mailbox einer Anarchistengruppe, die sich auf dem Server von A/I befindet. Aruba nimmt den Server kurzzeitig vom Netz, damit die Behörden sich die darauf befindlichen Daten kopieren können. A/I wird über die Aktion nicht informiert, auf Nachfrage begründet der Provider die vorübergehende Nichterreichbarkeit mit einem Stromausfall. Aufgrund von Dateien, die sich auf dem A/I-Server befinden, werden 2005 sieben Personen festgenommen, mit dem Vorwurf, einen gewaltsamen Umsturz und terroristische Aktionen geplant zu haben. Ein Gericht erklärt die Anschuldigungen später für unbegründet und hebt die Verhaftungen wieder auf. Erst bei der folgenden Akteneinsicht wird klar, dass der Server vor einem Jahr kopiert worden ist. Außerdem sind die Sicherheitseinstellungen umgangen worden, so dass die gesamte Kommunikation der Benutzer von A/I problemlos hätte überwacht werden können. In welchem Umfang das tatsächlich geschehen ist, bleibt unklar. Der Eingriff in die Privatsphäre betrifft auch die Kommunikation von Journalisten, Anwälten und Betroffenen der juristischen Aufarbeitung der Ereignisse in Genua. Diese kommunizieren überwiegend über die Infrastruktur von A/I, weil die Privatsphäre ihrer Nachrichten von besonders hoher Bedeutung ist. Die Aktivisten von A/I sehen sich zum ersten Mal mit einer Form digitaler Repression konfrontiert und es wird klar: »Mit der digitalen Revolution hat sich die Überwachung noch weiter verbreitet.«
Mehrfach wurden A/I-Server nach Rechtsstreitigkeiten vorübergehend vom Netz genommen. Da wichtige Daten nur auf einem Server lagen, hat dies stets Auswirkungen auf die Infrastruktur. Deshalb wurde 2005 der »R*-Plan« entwickelt. Dabei wurden die gespeicherten Daten über verschiedene Server verteilt. »Mit dem R*-Plan wird ein Netzwerk selbstverwalteter Server erschaffen, das sich später ›Network di comunicazione resistente‹ nannte.« Die Server sind auf unterschiedliche Länder verteilt und sind über ein VPN-Netzwerk miteinander verbunden. Gelingt es Außenstehenden, einen Server vom Netz zu nehmen, kann das Netzwerk die betroffenen Dienste innerhalb von 24 Stunden wiederherstellen und die Zerstörung der eigenen Infrastruktur abwenden. Ebenfalls 2005 folgte der Start der Blogging-Plattform »Noblogs«, um einen weiteren Weg zu bieten, Netzwerke aufzubauen.

Heute sind über noblogs.org mehr 4 000 verschiedene Blogs erreichbar. Nach zehn Jahren hostet A/I außerdem mehr als 10 000 Mailboxen, 1 500 Websites und 2 500 Mailinglisten.
Das Kollektiv unternimmt alles technisch Mögliche, um die Vertraulichkeit der Kommunikation der Nutzer seiner Dienste zu gewährleisten. Dafür ist eine IT-Infrastruktur notwendig. A/I stellt daher neben Noblogs und Webhosting eine große Auswahl von Diensten zur Verfügung, etwa Anonymisierungsdienste, VPN-Netzwerke, Forensoftware und Newsletter, Instant Messaging und Hosting von Software-Projekten.
Die geschaffene Infrastruktur ist Menschen vorbehalten, die mit der inhaltlichen Ausrichtung des A/I-Kollektivs übereinstimmen. Alle gehos­teten Projekte sind antirassistisch, müssen einen nicht kommerziellen Charakter aufweisen und dürfen keinen parteipolitischen oder religiösen Aktivitäten dienen. Um den freien Austausch von Wissen zu ermöglichen, müssen öffentliche Inhalte unter einer freien Lizenz, etwa Creative Commons, zur Verfügung gestellt werden.
A/I ist kollektiv organisiert und diskutiert alle Entscheidungen über Mailinglisten. Darüber konnte ein Plenum geschaffen werden, in das jedes Mitglied unabhängig von seiner räumlichen Distanz dauerhaft eingebunden ist. Alle Beteiligten können sich an Entscheidungen beteiligen und Entstehungsprozesse transparent nachvollziehen. Das A/I-Kollektiv besteht aus rund 40 Mitgliedern, die sich ohne Lohn für die Ziele der Organisation engagieren. 13 000 Euro werden jährlich benötigt, um die eigene IT-Infrastruk­tur aufrechtzuerhalten. Die Kosten werden durch Spenden der Benutzer gedeckt. Nur so ist langfristige Unabhängigkeit gewährleistet.

Autistici & Inventati:
»+Kaos. 10 anni di hacking e mediattivismo«cura di Laura Beritelli, Agenzia X