Der Doktortitel als Distinktionsmerkmal

Der Adelstitel des Bürgertums

Als Distinktionsmerkmal signalisiert der Doktortitel die Zugehörigkeit zu einer ­gesellschaftlichen Elite.

Es war schon im Terminkalender eingetragen: Am kommenden Dienstag eröffnet Bildungs- und Forschungsministerin Annette Schavan (CDU) in Köln die Didacta eröffnen. Ihre Rede versprach einigen Unterhaltungswert. In diesem Jahr wurde als einer der Schwerpunkte der europaweit größten Bildungsmesse angekündigt: »Abschreiben unerwünscht! Wissenschaftliches Fehlverhalten in Hochschule und Schule«. Mit ihrem Rücktritt am Samstag hat sich Schavan diese Peinlichkeit erspart. Ihr Amtsverzicht folgte den Gesetzmäßigkeiten des politischen Geschäfts. Auch wenn sie nach wie vor den Plagiatsvorwurf vehement bestreitet – nachdem der Fakultätsrat der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf ihr vorige Woche den Doktorgrad wegen »vorsätzlicher Täuschung« entzogen hat, war die 57jährige Christdemokratin sieben Monate vor der Bundestagswahl am 22. September zu einem Problem für die schwarz-gelbe Koalition geworden. »Meine Entscheidung resultiert aus genau der Verantwortung, aus der heraus ich mich bemüht habe, mein Amt zu führen«, sagte Schavan. Zum Abschied zitierte sie ihren einstigen politischen Mentor Erwin Teufel: »Zuerst das Land, dann die Partei und dann ich selbst.« Sie habe »ihr eigenes persönliches Wohl hinter das Wohl des Ganzen« gestellt, lobte Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre enge Vertraute, deren Rücktritt sie nur »sehr schweren Herzens angenommen« habe. Den Eindruck, es hätte eine Alternative gegeben, vermittelte Merkel nicht.

Dabei hat Schavan eigentlich nur Pech gehabt. Auch wenn sie sich in ihrer Dissertation »Person und Gewissen« recht freizügig aus der Sekundär­literatur bedient hat und ihr deswegen ein allzu freier Umgang mit den Usancen des Wissenschaftsbetriebs vorgeworfen werden darf: Wenn die Universität Düsseldorf die gleichen Maßstäbe angelegt hätte wie die Universität Potsdam bei ihrer Bewertung des Falls des noch bis nächste Woche amtierenden niedersächsischen Kultusministers Bernd Althusmann (CDU), hätte Schavan nicht viel zu befürchten gehabt. Gegenüber der Textcollage, die ihr Parteifreund 2007 als Promotionsarbeit abgegeben hatte, erscheint ihre 33 Jahre zurückliegende Arbeit geradezu als Beispiel guter wissenschaftlicher Praxis. Trotz einer Reihe von »Mängeln von erheblichem Gewicht« durfte Althusmann seinen Titel – und damit auch sein Ministeramt – behalten. Doch einheitliche Verfahrensregeln und Maßstäbe gibt es nicht. Jede Hochschule darf nach ihren eigenen Regeln und in eigenem Ermessen entscheiden, weswegen die Verwaltungsgerichte auch regelmäßig den Entzug eines Doktortitels bestätigen, wie erst kürzlich die Unternehmerin und FDP-Beraterin Margarita Mathiopoulos erfahren musste.

Der akademische Grad spielt in der deutschen Politik eine nicht zu unterschätzende Rolle. Während in den USA im derzeitigen Kabinett Barack Obamas zwei Mitglieder promoviert haben, führen in Merkels Bundesregierung zwei Drittel der Ministerinnen und Minister einen Doktortitel. Was allerdings nicht unbedingt Ausdruck von akademischer Exzellenz ist. Wer sich beispielsweise die Dissertationen von Guido Westerwelle oder Kristina Schröder anschaut, merkt schnell, dass deren wissenschaftlicher Wert in keinem Verhältnis zu dem Renommee steht, das sich die Verfasser vom Erwerb des Titels versprechen durften. Der Doktor ist in Deutschland so etwas wie der Adelstitel des Bürgertums. Als Distinktionsmittel signalisiert er die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Elite. Schließlich bringen es nur 2,3 Prozent eines Jahrgangs bis zur Promotion. Das bedeutet auch, dass diejenigen, die es geschafft haben, sich ihre hart erarbeiteten Doktortitel nicht einfach abwerten oder gar lächerlich machen lassen wollen. Trotzdem ist es beeindruckend, welchen Eifer die Angehörigen der deutschen Bildungsaristokratie an den Tag legen, um Plagiateure, die sich ihrer Ansicht nach unverdient in ihre Reihen geschummelt haben, zur Strecke zu bringen. Wäre die Empörungsmaschinerie der Akademikerzunft doch immer schon auf so vollen Touren gelaufen! Diejenigen, die ihren Doktor zwischen 1933 und 1945 unter höchst zweifelhaften Umständen gemacht hatten, konnten solche Erregungszustände nie hervorrufen. Das dürfte kaum am fehlenden Internet gelegen haben. Nazi zur rechten Zeit gewesen zu sein, das war für die deutsche Elite einfach kein Problem. So scherte es niemanden, dass der erste Bundesbildungsminister, der 1969 ernannte, mittlerweile parteilose Hans Leussink, seinen Doktor 1941 als NSDAP-Mitglied im Dritten Reich gemacht hatte. Zwischen 1949 und 1991 bekleide­ten insgesamt 25 ehemalige ­NSDAP-Mitglieder ein Ministeramt auf Bundesebene, nur zwei von ihnen – die Vertriebenenminister Theodor Oberländer und Hans Krüger (beide CDU) – kostete ihre Vergangenheit letztlich doch noch das Ministeramt.

Über eine Jahrzehnte zurückliegende Dissertation stolperte in der bundesdeutschen Geschichte vor Schavan nur der niedersächsische Justizminister Hans Puvogel. Als 25jähriger Student und Parteigenosse hatte der spätere Christdemokrat 1937 an der Universität Göttingen mit einer »rassehygenischen« Arbeit unter dem Titel »Die leitenden Grundgedanken bei der Entmannung gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher« promoviert. Darin postulierte Puvogel »die Förderung einer gesunden Rasse durch Ausmerzung minderwertiger und verbrecherischer Elemente«. Das kostete ihn zwar 1978 sein Ministeramt, seinen Doktortitel konnte er indes behalten. Das dürfte Annette Schavan trotz ihrer gerichtlichen Bemühungen nicht vergönnt sein. Sie sei »ein spätes Opfer des SPD-Bildungswahns«, urteilt Tilman Krause in der Welt. »Was soll man aber von einer Frau halten, die, aus einfachen Verhältnissen kommend, promovieren will um jeden Preis, hauptsächlich aber ohne vernünftig studiert zu haben?«, fragt der aus besserem Hause stammende leitende Literaturredakteur. »Der Ausverkauf von Bildung, der naive Glaube, jeder könne ein Intellektueller sein und der Aufstieg ins Bildungsbürgertum lasse sich in zwei, drei Jahren bewältigen – all diese törichten Illusionen sind auf sozialdemokra­tischem Mist gewachsen.« Krause machte seinen Dr. phil. übrigens 1991 an der an der Freien Universität Berlin, jener Hochschule, die vor fünf Jahren Schavan zur Honorarprofessorin im Fach Katholische Theologie bestellt hat. Fast acht Jahre amtierte Schavan als Bundesbildungsministerin, so lange wie keiner ihrer Vorgänger. Dass sie in ihrem Amt viel bewegt hätte, behaupten nicht einmal wohlwollende Kommentatoren. Davor war sie zehn Jahre Kultusministerin in Baden-Württemberg, in Erinnerung bleibt, dass sie in dieser Zeit Rolf Hochhuths »Eine Liebe in Deutschland« von der Pflichtlektüreliste für das Abitur an den beruflichen Gymnasien streichen ließ. Das Buch hatte 1978 den damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Karl Filbinger das Amt gekostet, dessen Rolle als »furchtbarer Jurist« (Hochhuth) während der NS-Zeit es öffentlich machte. Schavans formale Begründung für die Streichung war, es gebe zu dem historischen Roman »zu wenig Sekundärliteratur«. Befriedigt kommentierte die FAZ, der Deutschunterricht sei »nicht Schutthalde aller früheren gesellschaftlichen Skandale«. Im Streit um die Plagiatsvorwürfe gegen Schavan bezog kaum eine Zeitung so eindeutig und so vernichtend Stellung wie die FAZ. Auf die Idee, Filbinger sollte sein 1939 erworbener Doktorgrad aberkannt werden, ist das Zentralorgan der konservativen Intelligenz nie gekommen.