Das Buch »Die verratene Revolution 1918/19« von Dietmar Lange

Der vergessene Terror

Im März 1919 wurde in Berlin ein Generalstreik von Militär und Freikorps blutig niedergeschlagen. Der Historiker Dietmar Lange liefert einen tiefen Einblick in ein weitgehend unbekanntes Kapitel der deutschen Geschichte.

Unter dem Motto »Zerstörte Vielfalt« erinnern staatliche Stellen 2013 an mehrere Jahrestage des NS-Terrors, von der Machtübernahme bis zur Reichspogromnacht. Mit dem Titel wird suggeriert, dass es in Deutschland bis 1933 eine weit­gehend heile Welt gegeben habe, die von den Nazis zerstört wurde. Der Publizist Sebastian Haffner, der während der NS-Zeit im Exil lebte, eröffnete in seinem 1969 erschienenen Buch »Die verratene Revolution 1918/19« eine ganz andere Perspektive auf die Geschichte vor 1933. Dort bezeichnet er die von rechten Freikorps mit Unterstützung der SPD-Führung verübten Morde an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht als »Auftakt zu den tausendfachen Morden in den folgenden Monaten der Noske-Zeit und den millionenfachen Morden in den folgenden Jahrzehnten der Hitlerzeit«.
Der Berliner Historiker Dietmar Lange widmet sich in seinem bei Edition Assemblage veröffentlichten Buch »Massenstreik und Schießbefehl« einem weniger bekannten Kapitel der deutschen Zwischenkriegsgeschichte und setzt sich intensiv mit dem Generalstreik und den Kämpfen in Berlin im März 1919 auseinander. Der Streik war einerseits ein letzter Versuch, die Ziele der Revolution wie die »Sozialisierung der Schlüsselindustrien« und die Etablierung von Räten durchzusetzen. Andererseits ging es aber auch schlicht um die Verbesserung der miserablen Lebensbedingungen der Arbeiterschaft. Lange führt in diesem Zusammenhang Aussagen von Sozial- und Gesundheitsexperten an, denen zufolge mehr als die Hälfte der Todesfälle in den Berliner Krankenhäusern in den ersten Wochen des Jahres 1919 auf Unterernährung zurückzuführen sind.

Das Bürgertum wappnete sich auf seine Weise für die Konfrontation. Am 10. Januar 1919 trafen sich »40 bis 50 Vertreter von Banken, Industrie und Gewerbe (…), wo nach einem Vortrag des führenden antikommunistischen Agitators und Vorsitzenden der antibolschewistischen Liga, Edward Stadler, ein Fonds zur Niederschlagung der Revolution mit mehreren Millionen Mark ausgestattet wurde«, zitiert Lange ein historisches Dokument. Dieses Geld wurde vor allem zum weiteren Aufbau der Freikorpsverbände und Bürgerwehren genutzt, die an der blutigen Niederschlagung der Aufstände im März 1919 beteiligt waren.
Lange geht detailliert auf die Straßengewalt ein, die sich parallel zum Generalstreik in einigen Berliner Stadtteilen entwickelte und von der sich sämtliche politische Gruppen – auch die junge KPD – distanzierten. Der Historiker verweist auf verbreitete Thesen, dass diese Aktionen von der Konterrevolution bezahlt wurden, um die Streikbewegung zu diskreditieren und schließlich zu zerschlagen. Er beschreibt aber auch die soziale und politische Anspannung auf den Straßen Berlins, die durch die schlechte wirtschaftliche Situation verschärft wurde. Tatsächlich traten mit Verweis auf die Unruhen Sondergesetze in Kraft, die den Arbeitskampf von Anfang an erheblich behinderten. Selbst die Herausgabe einer Streikzeitung wurde verboten.
Auch nachdem der Ausstand in Berlin nach sechs Tagen abgebrochen wurde, wütete der Terror der Freikorps und Bürgerwehren noch wochenlang weiter. Zu den Opfern gehörte neben vielen anderen Leo Jogiches, ein langjähriger Weggefährte Rosa Luxemburgs und Mitbegründer des Spartakusbundes. Nach der Ermordung Luxemburgs und Liebknechts war Jogiches Parteivorsitzender der KPD geworden, doch hatte er diesen Posten ebenfalls nur kurze Zeit inne. Im März 1919 wurde er aus seiner Neuköllner Wohnung verschleppt und kurz darauf, am 10. März, im Untersuchungsgefängnis Moabit durch einen Kopfschuss getötet. Vor allem seine Recherchen zur Ermordung Luxemburgs und Liebknechts waren Militär und Freikorps ein Dorn im Auge gewesen. In den Akten heißt es, er sei auf der Flucht erschossen worden.

Jogiches war nicht der einzige Oppositionelle, der ermordet oder Repressalien ausgesetzt wurde. Die Freikorps durchkämmten die Berliner Arbeiterviertel mit Listen, auf denen Personen verzeichnet waren, die sich gegen den Krieg ausgesprochen hatten oder die in den Tagen der Novemberrevolution in Räten aktiv geworden waren. Auch missliebige Intellektuelle und dadaistische Künstler gehörten zu den Opfern des »Weißen Terrors«. Einer von ihnen war der Schriftsteller Wieland Herzfelde, der Bruder des Künstlers John Heartfield, der wegen der Herausgabe einer sati­rischen Zeitschrift inhaftiert wurde. »Diese Lynchungen«, zitiert Lange den Publizisten, beruhten »nicht auf Erregung, sondern auf System und Instruktion.«
In den Arbeitervierteln Berlins wurden Standgerichte eingesetzt, um unliebsame Oppositionelle ad hoc verurteilen zu können. Lange referiert in seinem Buch auf die damaligen Akten und führt erschreckende Beispiele an. So wurde etwa der Zigarettenhändler Johannes Müller denunziert und vor ein Standgericht gestellt, weil er als revolutionär geltende Bücher besaß. In der And­reasstraße in Friedrichshain wurden ein Vater und sein 19jähriger Sohn erschossen, weil sie zwei Handgranatenstiele von ihrer Arbeitsstelle mitgebracht hatten.

Der Schießbefehlerlass wurde erst am 16. März aufgehoben. Nach einem offiziellen Bericht des Reichswehrministers Gustav Noske (SPD) sind in Berlin insgesamt 1 200 Menschen ums Leben gekommen. Der überwiegende Teil von ihnen ist jedoch nicht bei den Kämpfen gestorben, sondern von Standgerichten erschossen worden. Lange schätzt die Zahlen Noskes allerdings als zu niedrig ein, da ein Teil der Opfer in Massengräbern verscharrt oder in die Spree geworfen wurde. Noch im Sommer 1919 wurden Berichten zufolge vereinzelt aufgedunsene Leichen ans Ufer geschwemmt.
Als sich die Nationalversammlung am 27. März 1919 mit dem Geschehen befasste, erklärte Noske unter dem Beifall sämtlicher Parteien von der SPD bis hin zur äußersten Rechten: »Da gelten Paragraphen nichts, da gilt lediglich der Erfolg, und der war auf meiner Seite.« Schon der Historiker Sebastian Haffner hat 1969 in seinem Buch einen Zusammenhang zwischen dem Terror der Freikorps gegen die Novemberrevolution und den Massenmorden des NS-Regimes hergestellt. Langes Erkenntnisse stützen diese Einschätzung anhand zahlreicher Beispiele und untermauern auch die Worte, die der Rechtshistoriker Otmar Jung in einer Ausgabe der Militärhistorischen Mitteilungen von 1989 für die Geschehnisse des März 1919 fand: »Noskes Erschießungsbefehl reiht sich so als unwürdiges Glied in eine Kette (prä)faschistischer deutscher Gewaltpolitik ein, welche die Welt nicht zu Unrecht ›hunnisch‹ nannte.«
Lange widerlegt mit seinem Buch die These von der 1933 durch die Nazis zerstörten Vielfalt und zeigt am Beispiel des März 1919 auf, was sich bei der Niederschlagung der Bayerischen Räterepublik im April 1919, des Ruhraufstands 1920 und auch des Hamburger Aufstands 1923 in ähnlicher Form wiederholte. Für den 14. März dieses Jahres planen linke Gruppen eine Veranstaltung mit dem Autoren des Buchs, bei der auch die Frage diskutiert werden soll, weshalb es bis heute keinen einzigen Gedenkort für die Opfer dieses Terrors gibt.